Sommerkind
Shellys Leben, und ich wüsste unheimlich gern, wie sie deiner Ansicht nach seinerzeit an den Strand geraten ist.”
Rorys Timing hätte schlechter nicht sein können und ließ Daria erschaudern. Er begriff einfach nicht, wie sehr Chloe ihm sein Eindringen in ihr aller Leben verübelte.
Chloe lehnte sich über Daria und legte Rory eine Hand aufs Knie. Sie sah ihn eindringlich an, ihre langen Wimpern warfen Schatten auf ihre Wangen. “Rory, es ist schlichtweg egal, wie Shelly an den Strand kam”, sagte sie. “Ich weiß, dass du das nicht verstehst. Ich weiß, dass es nicht in deine Pläne für die Sendung passt. Und ich weiß, dass du eine Antwort willst, die dramatisch ist; etwas, was du enthüllen und entlarven kannst. Aber es ist einfach nicht wichtig. Shelly war unser Geschenk des Meeres. Und das ist alles, was wir wissen müssen.”
Chloe erhob sich. Sie drückte zärtlich Darias Schulter. “Gute Nacht, ihr zwei.” Dann ging sie die letzte Stufe zur Veranda hoch und verschwand im Haus.
“Autsch”, sagte Rory, als sie weg war. “Ich glaube, Chloe mag mich nicht besonders.”
“Es liegt nicht nur an dir. Sicher, es passt ihr nicht, dass du Shellys Leben auf den Kopf stellen willst. Aber sie zieht sich in letzter Zeit sowieso zurück. Nur habe ich keine Ahnung, warum.”
“Und ich mache es mit Sicherheit nicht besser.”
“Sie glaubt eben, du willst Shelly nur ausbeuten.”
“Denkst du das auch?”
“Ich denke, deine Absichten sind ehrenhaft, aber ich fürchte, dass deine Schnüffelei mehr schadet als nutzt.”
Für ein paar Sekunden schwieg Rory, und als er dann endlich etwas sagte, schwang in seiner Stimme Verzweiflung mit. “Aber es ist doch Shelly selbst, die möchte, dass ich …”
“Shelly hat ein lausiges Urteilsvermögen, Rory”, unterbrach Daria ihn. Wie oft wollte er das wohl noch hören? Sie zögerte kurz, doch dann sprudelten die Worte über ihre Lippen, als führten sie ein Eigenleben. “Willst du wissen, warum ich nicht mehr als Sanitäterin arbeite? Willst du die Wahrheit wissen?”
Er sagte nichts, sah sie nur verwirrt und abwartend an. Daria zitterte. Der Gedanke, ihm alles zu erzählen, war zugleich beängstigend und verführerisch.
Dann holte sie tief Luft, presste ihre klammen Handflächen gegeneinander und begann zu sprechen.
“Vor einigen Monaten hatte ich einen großen Tischlerauftrag in einem alten Strandcottage, etwa eine halbe Meile von hier entfernt. Pete, Andy und ein Typ namens George halfen mir dabei. Andy und ich arbeiteten im Haus, Pete und George waren draußen beschäftigt. Auf einmal stürmte Pete zu uns herein und schrie, ein Flugzeug wäre ins Meer gestürzt.”
Sie erinnerte sich, wie sie zur Eingangstür gelaufen war und Richtung Strand geschaut hatte. Doch von ihrem Standort aus hatte sie das Flugzeug nicht sehen können, sondern nur ein paar Leute, die durch den Sand liefen. Deshalb hatte sie sich ihren Werkzeuggürtel von den Hüften gerissen und war aus dem Haus gerannt – Andy folgte ihr dicht auf den Fersen.
“Ich suche ein Telefon!”, rief George, während er schon in Richtung Hauptstraße lief. Denn in dem Cottage, das nur über die Sommermonate vermietet wurde, war jetzt, im April, die Telefonleitung noch nicht freigeschaltet.
Daria sah das Flugzeug erst, als sie den kleinen Sandhügel erreichte, der den Anfang des Strandes markierte. Und selbst da hatte sie noch Schwierigkeiten, Modell oder Größe des Flugzeugs auszumachen. Die Sonne stand hinter ihr tief am Himmel und wurde vom Wasser stark reflektiert.
Pete, der bereits die halbe Strecke zum Meer zurückgelegt hatte, drehte sich um und winkte ihnen. “Es ist ein Wasserflugzeug!”, rief er.
Gut, dachte Daria, ebenfalls auf dem Weg zum Wasser. Wenn die Schwimmer nicht beschädigt waren, würden sie das Flugzeug über Wasser halten. Ansonsten war die Chance, jemanden lebend zu bergen, äußerst gering.
Am Strand versammelten sich die Schaulustigen, die meisten in Straßenkleidung, und zitterten in der kühlen Abendluft. Sie zeigten auf das Flugzeug und sprachen aufgeregt miteinander. Daria und Andy bahnten sich ihren Weg durch die schnell wachsende Menge. “Hat jemand 911 gerufen, den Rettungsdienst?”, rief Daria.
Mehrere Leute bejahten ihre Frage.
“Ich habe von meinem Mobiltelefon aus die Rettung angerufen”, sagte ein Mann, der neben ihr stand.
“Wie lange ist das her?”
“Ein paar Minuten”, antwortete er. “Gleich nachdem das Flugzeug ins Wasser gestürzt
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