Sommerkind
Tränen in Darias Augen wahr.
18. KAPITEL
G egen zehn Uhr abends, gut eine Stunde, nachdem sie das Restaurant verlassen hatte, lenkte Daria den Wagen in die Auffahrt des Sea Shanty. Sie hatte Shelly mit Ellen und Ted nach Hause geschickt und war zu Meilenstein acht gefahren, zu der aufwühlenden Szenerie eines tödlichen Unfalls. Sie konnte nicht sagen, was sie dorthin gezogen hatte. Vielleicht glaubte sie, helfen zu können, doch das war nicht der Fall. Sie brauchten ihre Hilfe, in Ordnung. Doch wie all die anderen Schaulustigen blieb auch sie weitab vom Geschehen stehen; sie war unfähig, zum Rettungswagen zu gehen, um ihren ehemaligen Kollegen bei der Bewältigung des Chaos zu helfen. Das Gefühl, auf der Stelle festgefroren zu sein, in der Dunkelheit versteckt, weckte eine weitere Empfindung: Sie fühlte sich feige und nutzlos. So schnell sie konnte, war sie weinend nach Hause gefahren.
Als sie aus dem Wagen stieg, war sie überrascht, Rory auf den Verandastufen des Sea Shanty vorzufinden. Bei seinem Anblick ging ihr das Herz über. Sie hatte angenommen, Grace sei noch bei ihm. Er war während des Essens so besorgt um sie gewesen. Während sie auf ihn zuging, hoffte sie, dass die Nacht ihre Tränen verhüllen würde.
“Hallo”, begrüßte sie ihn in einem angestrengt fröhlichen Ton und setzte sich neben ihn. “Was machst du denn hier?”
“Auf dich warten.”
“Oh.” Sie freute sich. “Na ja, jetzt bin ich ja da.”
“Ellen hat gesagt, du bist zu der Unfallstelle gefahren.”
“Ja, stimmt. Ein Auto ist einem Fahrradfahrer ausgewichen und in ein anderes Auto hineingefahren. Der Radfahrer wurde trotzdem verletzt, und ich glaube, in einem der Autos ist jemand ums Leben gekommen. Beide Wagen brannten.” Sie beschrieb die Szenerie in nüchternem Ton, um jedes Gefühl im Keim zu ersticken.
Rory zuckte zusammen. “Klingt furchtbar.”
“Das war es auch.” Ihr war klar, dass in dieser Nacht noch ein weiterer Albtraum auf sie wartete: Obwohl sie im Hintergrund geblieben war, obwohl sie nicht einmal wusste, ob der Radfahrer männlich oder weiblich war, würde die Pilotin sie wieder heimsuchen.
“Ich bewundere dich aufrichtig”, sagte Rory. “Ich kann mir diese Arbeit für mich nicht vorstellen. Und dass du das Ganze ehrenamtlich machst, beeindruckt mich umso mehr.”
“Gemacht
hast”
, korrigierte sie ihn. Sie verdiente seine Anerkennung nicht. “Ich habe nicht geholfen, sondern nur zugesehen.”
“Das verstehe ich nicht. Du warst ganz offensichtlich bestürzt, als dein Freund Mike dich zum Mitkommen überreden wollte. Ich dachte, du und er … ihr hättet mal …” Seine Stimme verlor sich.
Sie brauchte einen Moment, ehe sie seine Andeutung begriff, und musste lachen. “Ich und Mike? Nein. Auf keinen Fall.”
“Aber was hat dich dann zurückgehalten? Und wenn du zum Unfallort gefahren bist, warum hast du nicht geholfen?”
“Das ist eine lange Geschichte, und spannend ist sie auch nicht gerade.” Ein anderes Thema musste her. “Also, erzähl mir lieber, wie dein Abend noch war.”
Rory zögerte, als wüsste er noch nicht, ob er diesen abrupten Themenwechsel gutheißen sollte. Dann gab er nach. “Ich muss zugeben, dass ich Grace nicht so recht verstehe”, sagte er. “Anscheinend will sie Zeit mit mir verbringen, aber trotzdem scheint sie nicht sonderlich an mir interessiert zu sein … im romantischen Sinne, wenn du verstehst, was ich meine.”
Daria versuchte, sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen. “Nein. Ich weiß nicht genau, was du sagen willst.” Sie wollte mehr hören.
“Na ja, anscheinend freut sie sich, wenn ich sie anrufe. Sie freut sich darüber, wenn ich sie einlade, etwas mit mir zu unternehmen. Aber sie will nicht … Ich habe nicht den Eindruck, dass sie eine Beziehung will. Jedenfalls nicht mit mir. Heute beim Abendessen habe ich zum ersten Mal ihre Hand gehalten.”
“Du machst Witze.”
“Nein, ehrlich! Und als wir wieder am Poll-Rory waren, ist sie aus dem Auto gesprungen, noch bevor ich … ihr irgendwie näherkommen konnte. Findest du das nicht auch seltsam?”
“Eigentlich nicht.” Dafür fand sie, dass Grace komplett verrückt war. “Ihre Ehe ist gerade erst gescheitert. Wahrscheinlich muss sie sich an die Vorstellung, mit jemand anderem zusammen zu sein, erst noch gewöhnen.”
“Ja, vielleicht. Ich bin das nur einfach nicht gewohnt. Normalerweise kommen die Frauen auf mich zu. Das soll keine Aufschneiderei sein. Mir ist schon
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