Sommerkind
mir die verrücktesten Dinge auszumalen: Was, wenn es doch Polly war? Und was, wenn meine Mutter davon gewusst und zum Wohl ihrer Tochter Stillschweigen darüber bewahrt hat? Meine Mutter hat Polly immer vor allem beschützt, und ich glaube, dass der Gedanke gar nicht so abwegig ist.”
Rory tat Grace leid. Dieser Gedanke quälte ihn, und sie hätte ihm gern geholfen. “Aber wenn es wirklich Polly war – meinst du nicht, du hättest davon erfahren? Immerhin habt ihr in demselben Haus gelebt.”
“Du hast ja recht. Aber seit Linda diesen Zweifel gesät hat, wächst er in mir.”
Grace blickte auf ihre blassen Beine. “Tja, wie immer kriege ich schon wieder einen Sonnenbrand”, sagte sie, obwohl ihre Beine noch genauso weiß waren wie bei ihrer Ankunft. “Ich fahre wohl besser wieder.”
“Wir könnten auch noch zu mir gehen”, schlug Rory vor. “Oder irgendwo einen Kaffee trinken.”
Sein hoffnungsvoller Blick tat ihr weh, und sie wandte sich ab. “Nein, ich kann wirklich nicht. Ich wollte hier nur eine kleine Pause machen, aber jetzt muss ich wieder zur Arbeit.”
Rory stand auf und klappte ihren Liegestuhl zusammen. “Du scheinst ja wirklich gern Auto zu fahren”, stellte er in Anspielung auf all die Zeit fest, die sie für eine knappe halbe Stunde am Strand im Auto verbrachte. Vor allem, da sie selbst ganz in der Nähe des Meeres lebte. Entweder war sie total verrückt nach ihm oder einfach nur verrückt.
“Sagen wir mal: Es macht mir nichts aus”, antwortete sie.
“Soll ich Shelly die Muscheln ganz sicher nicht geben?”
“Nein. Wenn ich jetzt fahre, bleibt noch genug Zeit, bei der Kirche haltzumachen.”
Grace war noch nie zuvor in St. Esther's gewesen und wusste daher nicht, ob sie direkt in den Kirchenraum oder in das kleine Gebäude nebenan gehen sollte. Sie entschied sich für das Seitengebäude und fand sich sodann in einem geräumigen Korridor wieder, in dem es angenehm nach Holz roch. Aus einem der Büros kam ein Mann heraus und auf sie zu.
“Hallo”, sagte er. Er trug ein kurzärmliges, blau kariertes Hemd und kakifarbene Shorts und sah gut aus mit dem haferblonden Haar. Sein Blick fiel auf das mit Muscheln gefüllte Glas in ihrem Arm, dann sah er sie verschmitzt an.
“Ich suche Shelly Cato”, sagte sie.
Er wies auf eine Holzbank an der Wand. “Setzen Sie sich doch. Ich bin Pfarrer Macy. Ich hole sie. Sie ist, glaube ich, in Pfarrer Waynes Büro.”
“Vielen Dank.” Grace nahm Platz, legte das schwere Glas in ihren Schoß und blickte dem Pfarrer nach, der den Flur entlangging und dann hinter einer der Türen verschwand.
Einen Moment später trat Shelly aus derselben Tür hinaus. Mit einem Lächeln kam sie auf Grace zu, und man konnte ihr die Verwirrung deutlich ansehen. “Hi Grace”, begrüßte sie sie. Grace stand auf. Ihr Herz vollführte wilde Sprünge, wie jedes Mal, wenn sie diese junge Frau sah. “Rory sagte, du wärst hier. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich einfach so hereinschneie.” Sie hielt ihr das Glas Muscheln entgegen. “Diese Muschelsammlung steht schon seit Ewigkeiten bei mir zu Hause herum, und ich dachte, bevor ich sie einfach wegwerfe, frage ich lieber dich, ob du etwas damit anfangen kannst.”
“Danke.” Shelly nahm ihr das Glas ab. Sie hielt den Kopf schräg, um den Glasinhalt besser sehen zu können. “Es sind bestimmt ein paar brauchbare Muscheln dabei.”
Eigentlich wollte Grace noch nicht gehen, doch sie wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Langsam schnürte sich ihr schmerzhaft die Kehle zu. “Also dann”, meinte sie. “Wir sehen uns sicher in der Sackgasse, wenn ich Rory das nächste Mal besuche.”
“Okay. Tschüs.”
“Tschüs.” Grace wandte sich gerade zum Gehen, da hielt Shelly sie zurück.
“Grace?”, fragte sie. “Du und Rory, seid ihr eigentlich nur Freunde?”
“Ja, Shelly. Wir sind nur Freunde.”
Shellys Lächeln wurde breiter. “Das ist gut. Danke noch mal für die Muscheln.”
Zurück im Wagen, musste Grace sich zwingen, vom Parkplatz und weg von Shelly zu fahren. Sie würde sehr vorsichtig sein müssen. Ihr Herz würde sie früher oder später noch verraten, wenn sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle behielt. Bei ihrem ersten Besuch in Kill Devil Hills hatte sie mit einer solchen Entwicklung der Dinge nicht gerechnet. Sie wollte nur herausfinden, wie viel Rory über das Neugeborene bereits in Erfahrung gebracht hatte. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie noch keine Ahnung, dass das Baby gar nicht
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