Sommerkind
viele Leute beim Drachenfliegen beobachtet, aber zum ersten Mal zog nicht der Flug, sondern der Pilot ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Gut, dachte sie, wenigstens hast du ihn als Freund. Sie konnte sich gut mit ihm unterhalten und sicher sein, dass er ehrlich zu ihr war. Auch wenn sie sich wünschte, er würde ihr nichts über seine Gefühle für Grace erzählen. Er war der erste und einzige Mann, der die Verantwortung, die sie für Shelly fühlte, voll und ganz verstand und respektierte. Vielleicht war er etwas verbohrt, wenn es um die Untersuchung von Shellys Herkunft ging. Doch wenigstens machte er Daria gegenüber daraus kein Geheimnis.
Er war ohne Frage viel aufrichtiger zu ihr als sie zu ihm.
23. KAPITEL
A n diesem Tag war es besonders heiß. Die Sonne schillerte auf den gläsernen Wellen, und während sie den Strand entlangging, genoss Shelly das Gefühl des kühlen salzigen Sprühregens auf der Haut, der vom Meer herüberwehte. Sie hatte ein Ziel, so wie bei jedem ihrer Spaziergänge. Auch wenn Daria und Chloe – ja, eigentlich jeder – dachten, sie streife ohne bestimmten Grund umher. Sie kannten sie eben nicht richtig. Sie hielten sie für einen anderen Menschen, als sie tatsächlich war.
Obwohl sie ihr Ziel schnell erreichen wollte, stellte das junge Paar, das mit ihrem Baby in der Nähe des Wassers saß, eine unwiderstehliche Versuchung dar. Shelly blieb bei ihrer Decke stehen und kniete sich neben das Baby in den Sand.
“Sie ist entzückend”, sagte sie und betrachtete die blonden Löckchen des Kindes. “Es ist doch ein Mädchen, oder?”
“Ja”, antwortete die junge Frau. “Sie heißt Anna.”
“Und wie alt ist sie?”, fragte Shelly. Anna schlug eine Spielzeugschaufel gegen einen Eimer, und Shelly nahm eine kleine Plastikharke, um in ihr Spiel einzustimmen.
“Dreizehn Monate”, erwiderte die Mutter. Der Vater sagte nichts. Sein Blick wanderte von Shelly aufs Meer und zurück zu Shelly. Viele Männer waren schüchtern, wenn sich das Gespräch um ihre Kinder drehte.
“Hi Anna.” Shelly streichelte zärtlich über das feine lockige Haar. “Ich bin Shelly.” Sie sah zu dem grünweißen Sonnenschirm über der Decke und dann zur Mutter. “Gut, dass Sie diesen großen Schirm haben. Ihre Haut ist ja noch so empfindlich.”
“Ja, das stimmt.”
Shelly sah sich die perfekt geformten Händchen und Füßchen an. “Hatten Sie keine Angst, dass nicht alles an ihr dran sein könnte?”, fragte sie. “Ich weiß, dass es vielen Mommys so geht.”
“Doch. Aber wir hatten Glück. Sie ist kerngesund.”
Shelly berührte den großen Zeh des kleinen Mädchens und beugte sich dann dicht zu ihm hinunter. “Der schüttelt das Bäumchen”, begann sie. Dann blickte sie wieder zur Mutter. “Sind Sie schnell schwanger geworden? Ich habe gehört, dass es manchmal ziemlich lange dauern kann.”
“Ach, bei mir eigentlich nicht.” Die Frau sah zu ihrem Mann, der immer noch schwieg.
“Hatten Sie Angst?”
“Angst?”
“Vor den Schmerzen, meine ich. Ich glaube, ich hätte Angst.”
“Ein bisschen.”
“Stillen Sie sie?”
“Ich … am Anfang, ja.” Wieder warf die Frau ihrem Mann einen Blick zu, als wüsste er die Antworten auf Shellys Fragen.
“Wie alt war sie, als Sie mit dem Abstillen angefangen haben?”, fragte Shelly weiter.
“Wir sollten besser nach Hause gehen”, sagte der junge Mann plötzlich zu seiner Frau.
“Gute Idee.” Die Frau sah erleichtert aus, und Shelly merkte, dass sie nur wegen ihr so schnell aufbrachen. Sie hatte zu viele Fragen gestellt. Zu viele
persönliche
Fragen. Eine schlechte Angewohnheit von ihr.
“Nein, nein.” Sie sprang auf. “Der Tag ist doch so schön. Und es ist noch früh. Ich finde, Sie sollten hierbleiben, und
ich
sollte gehen.” Ohne ein Wort zu sagen, starrte das Pärchen sie an, ohne Zweifel waren sie überrascht von ihrem unvermittelten Aufbruch. “Auf Wiedersehen.” Shelly winkte. “Auf Wiedersehen, Anna.” Sie entfernte sich schnell von ihnen. Ihr Benehmen war ihr ein wenig peinlich. Sie hatte ihnen Angst eingejagt. Vermutlich hatten sie sie für eine psychopathische Kindernärrin gehalten. Doch damit lagen sie völlig daneben. Sie könnte keinem Kind etwas zuleide tun, und schon gar nicht einem so hübschen wie Anna.
Wieder verspürte sie diesen inneren Schmerz, diese Sehnsucht, die sie nun schon so lange begleitete. Wie sehr sie sich doch ein eigenes Baby wünschte! Und mit ein bisschen Glück hätte sie schon bald eins:
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