Sommerlicht Bd. 1 Gegen das Sommerlicht
sie dich mir wegnehmen.«
»Ich weiß nicht … ich hab gar nicht gewusst …« Sie hatte so viele Fragen. Was wollte er? Was bedeutete »warten«? Was wollte sie? Aber nichts von alldem konnte sie ihn fragen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit war es ihr lieber, über Elfen nachzudenken als über alles andere. »Ich muss im Moment damit klarkommen – mit ihnen – und …«
»Ich weiß. Ich will auch gar nicht, dass du sie ignorierst. Nur ignoriere das hier auch nicht.« Er strich ihre Haare zurück und ließ seine Finger auf ihrer Wange liegen. »Sie klauen schon seit Jahrhunderten Sterbliche, aber dich kriegen sie nicht.«
»Vielleicht wollen sie ja auch was anderes.«
»Ich hab nichts gefunden, gar nichts , was darauf schließen lässt, dass sie wieder weggehen, wenn sie einmal einen Sterblichen gefunden haben, der ihnen gefällt.« Er zog sie in seine Arme, ganz zärtlich diesmal. »Wir haben einen Vorteil, weil du sie sehen kannst, aber wenn dieser Typ wirklich ein König ist, glaube ich nicht, dass er ein ›Nein‹ einfach so akzeptieren wird.«
Ashlyn sagte nichts, konnte nichts sagen. Sie stand einfach nur da, in Seths Armen, während er ihre wachsenden Ängste in Worte fasste.
Vierzehn
»Elfen scheinen eine besondere Vorliebe
für die Jagd zu besitzen.«
A. W. Moore: Das Volkstum der Isle of Man (1891)
Am Ende der Woche wusste Ashlyn zwei Dinge ganz sicher: Mit Seth zusammen zu sein war mehr als verführerisch und Keenan aus dem Weg zu gehen absolut unmöglich. Für beides musste sie sich etwas einfallen lassen.
Der Elfenkönig fand sich in der Schule bestens zurecht und lief ihr trotzdem nach wie ein besonders verbissener Stalker. Darauf zu warten, dass er das Interesse verlor, war wenig aussichtsreich, und ihre vorsichtigen Versuche, sich dickfellig oder gleichgültig zu geben, erwiesen sich als zwecklos. Allein ihn nicht zu berühren erschöpfte sie so sehr, dass sie abends kaum noch stehen konnte. Sie brauchte eine neue Strategie.
Elfen lieben die Jagd . Wenigstens diese Regel schien unverändert gültig. Wie die Wolfselfen, die durch die Straßen der Stadt pirschten, machte auch Keenan Jagd auf sie. Auch wenn sie nicht im physischen Sinne vor ihm davonlief, tat sie doch im Grunde nichts anderes. Also entschied sie – obwohl sie schreckliche Angst davor hatte – einfach stehen zu bleiben und ihn glauben zu lassen, er könne sie fangen.
In ihrer Kindheit war das eine der schwersten Lektionen gewesen. Damals hatte Grams kurze Ausflüge in den Park mit ihr gemacht, damit sie üben konnte, nicht wegzurennen, wenn sie an ihr schnüffelten oder ihr nachliefen, und damit sie lernen konnte, ihr plötzliches Stehenbleiben ganz natürlich wirken zu lassen, als hätte es mit den Elfen gar nichts zu tun. Sie hasste diese Übungen. Alles in ihr schrie lauf schneller , wenn sie ihr nachjagten, aber was sie in diesen Momenten antrieb, war Angst, nicht Vernunft. Denn wenn sie aufhörte zu laufen und stehen blieb, verloren die Elfen rasch das Interesse. Also würde sie aufhören vor Keenan davonzulaufen, sobald sie eine Möglichkeit sah, es natürlich wirken zu lassen.
Auf dem Weg zum Biologieunterricht lächelte sie Keenan probeweise ein paarmal vorsichtig an.
Er erwiderte ihr Lächeln, ohne zu zögern, und schaute sie so unglaublich glücklich an, dass sie ins Stolpern kam.
Aber als er sie stützen wollte, zuckte sie zurück, und er sah erneut frustriert aus.
Nach dem Religionsunterricht probierte sie es erneut: »Hast du am Wochenende irgendwas Schönes vor?«
Seine Reaktion war seltsam, halb amüsiert, halb überrascht. »Ja, eigentlich schon, aber …«, er starrte sie so lange an, bis die vertraute Panik wieder da war und der Drang, ihn zu berühren, »ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben.«
Lauf nicht weg.
Die Schmerzen in ihrer Brust waren zu stark; sie konnte nicht antworten. Also nickte sie nur und sagte: »Oh.«
Er schaute weg und schwieg, lächelte aber zufrieden. Ohne ein weiteres Wort arbeitete er sich durch die Menge. Auch wenn er immer noch zu nah bei ihr blieb, bot die Stille doch eine willkommene Abwechslung. Das plötzliche Fehlen der verführerischen Wärme war verblüffend erholsam. Es war, als strahlte er eine seltsame Ruhe aus.
Als sie zum Politikunterricht gingen, lächelte er immer noch. »Darf ich mich beim Mittagessen zu dir setzen?«
Sie blieb stehen. »Das machst du doch andauernd.«
Er lachte, und sein Lachen klang wie Musik, wie das Klingeln der
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