Sommerlicht Bd. 1 Gegen das Sommerlicht
immer immun gewesen; vielleicht war aber auch ihre Sehergabe der Grund, weshalb sie die Barriere nicht bemerkte. Donia fragte nicht nach. Stattdessen sagte sie den Zauberspruch im Flüsterton, damit Seth nicht noch skeptischer wurde, und führte sie schweigend in ihr Haus.
»Sind wir allein hier?« Seth schaute sich um, obwohl andere Anwesende den Augen eines Sterblichen ohnehin verborgen geblieben wären. Er hielt noch immer Ashlyns Hand und sah auch nicht so aus, als wenn er sie in der nächsten Zeit irgendwann loslassen wollte.
»Ja.« Ashlyns Blick wanderte durch das kleine Zimmer, über die einfachen Naturholzmöbel, den massiven Kamin, der fast die ganze Wand einnahm, und über die grauen Steine, die den Rest der Wand bildeten. »Nur wir.«
Donia lehnte sich an die Steine und genoss die Wärme, die sie abgaben. »Hast du es dir anders vorgestellt?«
Ashlyn schmiegte sich an Seth; sie sahen beide erschöpft aus. Sie verzog ihren Mund zu einem halben Lächeln. »Ich hab mir überhaupt nichts vorgestellt, glaube ich. Ich wusste ja gar nicht, warum du mit mir sprichst, und weiß es auch immer noch nicht. Ich weiß nur, dass es irgendwas mit ihm zu tun hat.«
»Alles hat mit ihm zu tun. Für die, die da draußen warten …«, Donia zeigte zur Tür, »zählt nur, was er will. Alles andere ist für sie unwichtig. Du und ich sind in ihrer Welt nur insofern bedeutsam, als wir für ihn bedeutsam sein könnten.«
»Und was zählt hier drinnen?«, fragte Ashlyn und legte ihren Kopf auf Seths Schulter.
Seth umarmte sie und zog sie zum Sofa. »Setz dich«, murmelte er. »Um mit ihr zu reden, musst du ja nicht stehen.«
Donia kam ein Stück näher und schaute Ashlyn an. »Hier drinnen zählt nur, was ich will. Und ich will euch helfen.«
Donia ging im Zimmer auf und ab und versuchte, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen; hin und wieder hielt sie inne, machte aber keine Anstalten, das Gespräch fortzusetzen. Wie sage ich, was gesagt werden muss? Die beiden waren erschöpft, und sie konnte es ihnen nicht verdenken.
»Donia?« Ashlyn kuschelte sich, halb schläfrig, halb lethargisch, in Seths Arme. Was immer Keenan getan hatte, hatte sie verwundbar gemacht.
Donia reagierte nicht. Stattdessen wandte sie sich dem Regal mit all den Büchern zu, verfasst von Sterblichen und Elfen, die die Wintermädchen über die letzten neunhundert Jahre gesammelt hatten. Sie fuhr mit den Fingern über einige ihrer Lieblingsbücher – Die verborgene Gemeinschaft von Kirk und Lang, die komplette Sammlung der Geschichte der Königshöfe , Keightleys Die Mythologie der Elfen und Sorchas Über das Dasein: Elfenmoral und Sterblichkeit . Ihre Hand wanderte an einer alten Ausgabe des Mabinogion vorbei, den gesammelten Tagebüchern der anderen Wintermädchen und dem zerfledderten Band mit Briefen, die Keenan über die Jahrhunderte geschrieben hatte – alle in derselben eleganten Schrift, auch wenn die Sprachen im Lauf der Zeiten wechselten. An der Stelle hielt sie inne.
Donias Hand verharrte auf einem stark abgegriffenen Buch mit einem zerrissenen grünen Einband. Es enthielt, handgeschrieben in den fremdartig schönen Worten einer fast ausgestorbenen Sprache, zwei Rezepte, die Sterblichen die Sehergabe verleihen sollten.
Es war verboten, sie Sterblichen zu lesen zu geben. Wenn einer der Höfe erfuhr, dass sie es trotzdem getan hatte, würde die Bedrohung durch Beira ihre geringste Sorge sein. Viele Elfen genossen es, einem verborgenen Volk anzugehören; sie würden es hassen, dieses Privileg einzubüßen, sollten Sterbliche sie wieder sehen können.
»Alles in Ordnung mit dir?« Seth kam nicht zu ihr hin, sondern blieb schützend an Ashlyns Seite, doch seine Stimme klang besorgt.
Er macht sich Sorgen um mich, eine Fremde.
Er war es wert, dass man ihn schützte. Die Geschichte der Elfen war ihr sehr vertraut, da sie viele Stunden über diesen Büchern verbracht hatte. Früher einmal hätten die Höfe ihm Geschenke dargebracht für das, was er tat. Schließlich beschützte er das Mädchen, das einmal die Königin werden würde. »Ja, alles in Ordnung. Mir geht es erstaunlich gut.«
Sie zog das Buch aus dem Regal, setzte sich, legte es auf ihren Schoß und blätterte vorsichtig die Seiten um. Mehrere von ihnen lösten sich aus der Bindung, so dass sie sie lose in der Hand hielt. »Notier dir das hier«, sagte sie. Es war nicht viel mehr als ein Flüstern, aber sie sprach es aus.
»Was?« Ashlyn setzte sich blinzelnd auf und löste
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