Sommerlicht Bd. 1 Gegen das Sommerlicht
Ashlyn war wegen der dunklen Flecken in ihrer Erinnerung so beunruhigt, dass sie sich auf nichts anderes konzentrieren konnte. Sie wollte, musste wissen, was passiert war. Es war das Einzige, woran sie denken konnte, während sie mechanisch am Unterricht teilnahm.
Mittags gab sie auf und trat aus der Schule, ohne sich darum zu scheren, wer sie sah.
Sie war noch auf der Treppe, als sie ihn entdeckte: Keenan wartete auf der anderen Straßenseite und beobachtete sie. Er lächelte sie an, als würde er sich freuen, sie zu sehen.
Er wird es mir sagen. Ich werde fragen, und er wird mir erzählen, was passiert ist. Er muss es tun. Sie war so erleichtert, dass sie fast rannte, als sie zwischen den Autos hindurch zu ihm hinübereilte.
Ihr fiel nicht mal auf, dass er unsichtbar war, bis er sagte: »Du kannst mich also wirklich sehen?«
»Ich …« Sie stammelte, verschluckte sich an dem, was sie gerade sagen wollte, an den Fragen, auf die sie eine Antwort brauchte.
»Sterbliche können mich nur dann sehen, wenn ich es will«, sagte er so ruhig, als sprächen sie über die Hausaufgaben und nicht über etwas, das sie das Leben kosten konnte.
»Du siehst mich, aber sie …«, er zeigte auf ein Ehepaar, das gerade seinen Hund ausführte, »… sehen mich nicht.«
»Ja, ich sehe dich«, flüsterte sie. »Ich kann euch schon immer sehen.«
Diesmal war es schwerer, es zu sagen, es ihm zu erzählen. Schon solange sie denken konnte, hatten Elfen sie in Angst und Schrecken versetzt, aber keine von ihnen so sehr wie Keenan. Er war der König dieser schrecklichen Wesen, vor denen sie schon ihr Leben lang auf der Flucht war.
»Gehen wir ein Stück?«, fragte er, obwohl sie bereits losgelaufen waren.
Er glitt in seinen üblichen Zauber hinüber – indem er den Glanz seiner kupferfarbenen Haare und das Rauschen von Blättern im Wind abmilderte –, während sie schweigend neben ihm herging und darüber nachdachte, wie sie ihn fragen konnte.
»Hast du? Hatten wir? Sex, meine ich«, platzte sie heraus, als sie gerade am Park vorbei waren.
Er senkte seine Stimme, als wollte er ihr ein Geheimnis mitteilen. »Nein. Ich habe dich nach Hause gebracht, bis vor die Haustür. Das ist alles. Als das Fest zu Ende war, alle anderen weg waren und nur wir …«
»Gib mir dein Wort darauf.« Sie zitterte und hoffte, dass er nicht so grausam war, sie zu belügen. »Ich muss es wissen. Bitte.«
Er lächelte sie beruhigend an, und sie roch Wildrosen, frisch gemähtes Heu, Lagerfeuer – Dinge, die sie nie gesehen hatte, deren Duft sie aber trotzdem augenblicklich erkannte.
Feierlich nickte er. »Ich gebe dir mein Wort, Ashlyn. Ich habe dir geschworen, dass deine Wünsche auch meine Wünsche sein sollen, so es mir möglich ist. Ich halte meine Versprechen.«
»Ich hatte solche Angst. Ich meine, nicht, dass du …« Sie unterbrach sich und verzog das Gesicht, als ihr bewusst wurde, was sie ihm gerade unterstellt hatte. »Es ist nur so, dass …«
»Was kann man von einem Elfen schon anderes erwarten, stimmt’s?« Er lächelte ironisch und sah für einen Elfenkönig erstaunlich normal aus. »Auch ich lese die Geschichten, die die Sterblichen über uns schreiben. Sie sind nicht ganz aus der Luft gegriffen.«
Sie holte tief Luft und schmeckte die seltsamen Sommergerüche auf ihrer Zunge.
»Aber die Elfen, über die ich … herrsche, sind nicht so. Und das – einander entehren – würden sie niemals tun.« Er beantwortete die Verbeugungen mehrerer unsichtbarer Elfen mit einem Kopfnicken und einem flüchtigen Lächeln. »Das ist nicht unser Stil. Wir nehmen uns niemanden, der das nicht will.«
»Danke … ich meine, das freut mich.« Sie wäre ihm beinahe um den Hals gefallen, so erleichtert war sie. »Aber das Wort mögt ihr nicht, stimmt’s?«
»Stimmt.« Er lachte, und sie hatte das Gefühl, die ganze Welt würde frohlocken.
Sie war so glücklich. Ich bin noch Jungfrau . Sie wusste, dass es eigentlich andere Dinge gab, über die sie nachgrübeln sollte, aber dieser eine kostbare Satz war das Einzige, woran sie jetzt denken konnte. An ihr erstes Mal würde sie sich erinnern können, und sie würde selbst darüber bestimmen.
Sie gingen weiter, und Keenan nahm Ashlyns Hand. »Ich hoffe, bald wirst du verstehen, was du mir und meinem Volk bedeutest.«
In den Rosenduft – Wildrosen – mengte sich ein merkwürdig salziger Geruch: von Wellen, die sich an felsigen Stränden brachen, springenden Delfinen. Sie schwankte,
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