Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
geliebten Gancanagh etwas zu tun.
Ob er ihn foltern wird? Oder ob er sie dazu zwingt, es zu tun?
Sie glucksten und tuschelten immer weiter, bis Leslie einen von Gabriels Hundselfen flehentlich ansah. Im Handumdrehen hatten die Hunde die Menge auseinandergetrieben; einige Elfen schlugen sie durch Drohungen in die Flucht, andere mit Gewalt: Sie hoben sie hoch wie unförmige Bälle und schleuderten sie von sich. Blut spritzte und fürchterliche Geräusche und Schreie hallten durch die Straße, bis sogar der Mann mit der Trommel innehielt und sich umschaute, als hätte er ein leises Echo dieser Gräuel aufgefangen, die er kaum wahrnehmen konnte.
»Hören sie auf dich?«, fragte Niall.
»Ja. Sie sind gut zu mir. Niemand hat mir je wehgetan.« Sie berührte seine Brust an der Stelle, an der seine Narben unter dem Hemd verborgen waren. Diese Narben gaben Antworten auf so viele Fragen – über ihn, über Irial, über die Welt, die sie nun ihr Zuhause nannte. »Niemand hat irgendetwas getan, worum ich nicht gebeten hätte«, fügte sie hinzu.
»Irial eingeschlossen?« Nialls Miene war ebenso schwer zu deuten wie sein Tonfall. Doch sie spürte seine Emotionen – Hoffnung und Sehnsucht und Angst und Wut. Er war ein Wirbelsturm aus verworrenen Gefühlen.
Leslie wünschte sich fast, sie könnte ihn belügen, aber sie wollte es nicht, nicht ihn, der sie weder mit Worten noch in Bezug auf Gefühle täuschen konnte. »Ja, meistens. Er berührt mich nie, ohne vorher zu fragen, falls du das meinst … Aber er hat mich zu dem hier gemacht, ohne mich vorher zu fragen, und ich bin nicht mehr sicher, was seine Entscheidung ist und was meine. Wenn ich … ihn brauche oder ich … Es bringt mich um, Niall. Es ist, als würde ich verhungern, als würde mich etwas von ganz tief drinnen bei lebendigem Leib auffressen. Es tut nicht weh. Ich habe keine Schmerzen, aber ich weiß, dass ich welche haben müsste. Ich empfinde kein Leid, aber trotzdem schreie ich. Nur Iri macht, dass es … besser wird. Er macht alles besser.«
Niall beugte sich zu ihrem Ohr und flüsterte: »Ich kann dafür sorgen, dass es aufhört. Ich glaube, ich kann es rückgängig machen. Ich kann alles besorgen, was ich brauche, um seine Verbindung zu dir zu kappen.« Und er erzählte ihr, dass Ashlyn ihm Sonnenlicht schenken wolle und die Winterkönigin Frost; damit könne er die Tinte durch gleichzeitiges Verbrennen und Gefrieren aus ihrer Haut entfernen. »Das müsste gehen. Dann wärst du von ihm befreit. Von ihnen allen.«
Leslie antwortete nicht, sagte weder ja noch nein. Sie konnte es nicht.
»Es ist deine Entscheidung.« Niall wiegte ihr Gesicht in seinen Händen und sah sie genauso an wie früher, als sie noch nicht das gewesen war, was sie jetzt war. »Es gibt einen Ausweg. Ich biete ihn dir an.«
»Was, wenn es dadurch noch schlimmer wird?«
»Versuch dir zu überlegen, wie du dich entscheiden würdest, wenn du nicht unter seinem Einfluss stündest. Hast du dir das hier …«, er hielt inne, »selbst ausgesucht?«
»Nein. Aber ich kann es auch nicht ungeschehen machen. Ich kann nicht so tun, als wäre ich nicht zu dem geworden, was ich jetzt bin. Ich werde nie mehr die sein, die ich vorher war … Und wenn meine Gefühle tatsächlich zurückkehren, wenn ich ihn wirklich verlassen kann, wie soll ich dann damit leben, dass ich …«
»Du lebst einfach. Dinge, die wir aus Verzweiflung tun, haben nichts mit uns selbst zu tun.« Nialls Miene war leidenschaftlich geworden, wütend.
»Wirklich?« Sie erinnerte sich an das Gefühl, den Moment, als sie vom Fenster der Lagerhalle nach unten gesehen und gewusst hatte, dass sie es weiter versuchen würde, selbst wenn Irial sie beim ersten Sprung auffing. Die Verzweiflung, die sie in diesem Moment kaum richtig hatte empfinden können, war ein Teil von ihr selbst gewesen. Sie selbst war diejenige gewesen, die diesen Weg gewählt hatte. Leslie dachte an die Zeichen und Warnungen zurück, die ihr von Anfang an bedeutet hatten, dass etwas nicht stimmte. Sie dachte an die Schatten zurück, die sie in Rabbits Büro gesehen hatte; sie dachte an die Fragen, die sie Ashlyn oder Seth oder Rabbit oder sich selbst nicht gestellt hatte; sie dachte an die Scham, die sie in sich hineingefressen hatte, anstatt Hilfe zu suchen. Das alles war sie selbst; das alles waren Teile von ihr. Es waren ihre Entscheidungen gewesen. Nicht zu handeln war auch eine Entscheidung.
»Ich glaube das nicht, Niall«, hörte sie sich
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