Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
darüber.
Sie verfielen in eine Routine, von der sie glaubte, sie akzeptieren zu können. Irial erzählte ihr nicht, was in den Nächten geschah, und sie stellte keine Fragen. Es war keine Lösung – keine richtige –, aber sie fühlte sich besser. Sie sagte sich, dass es irgendwie ein Fortschritt war. Manchmal, wenn Irial die Verbindung zwischen ihnen geschlossen hielt und die schwarze Ranke wie eine schlafende Schlange zwischen ihnen hing, spürte sie kurze Anflüge ihrer verlorenen Gefühle. In diesen Momenten konnte sie sich belügen und einreden, dass sie glücklich war, dass es Vorteile hatte, so verwöhnt zu werden – und dann wurde ihr plötzlich mit Schrecken klar, was aus ihr geworden war, bis die Entzugskrämpfe ihr die Besinnung raubten.
Genau wie bei jedem anderen Suchtkranken.
Ihre Droge mochte ja einen Puls und eine Stimme haben, aber er war dennoch eine Droge. Und sie war so tief gesunken, dass sie vor Scham gestorben wäre, hätte sie solche Gefühle noch gehabt. Doch so war es nicht: Irial trank sie fort wie ein exotisches Elixier. Und wenn der Schrecken seinen Gipfel erreichte, konnte nur Irials körperliche Nähe den gähnenden Schlund verschließen, der sich in ihrem Inneren auftat.
Was passiert mit mir? Wird die Finsternis mich verschlingen?
Irial hatte darauf keine Antwort; er konnte ihr nicht sagen, welche Auswirkungen all das auf ihren Körper hatte, ihre Gesundheit, ihre Lebensdauer – auf alles. Er konnte ihr nur sagen, dass er für sie da war, dass er sie beschützte, dass er für ihr Wohlergehen sorgte.
Jetzt, wo sie dazu in der Lage war, regelmäßig hinauszugehen – weg von Irial –, wusste sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie Niall begegnen würde. Von allen Leuten aus ihrem Leben vor dem Tintentausch war er derjenige, den sie am allerwenigsten treffen wollte. Er hatte einmal an Irials Seite gelebt: Er wusste also, wie es am Hof der Finsternis zuging, in was für einer Welt sie jetzt lebte, und sie wusste nicht, wie sie mit diesem gemeinsamen Wissen umgehen sollte.
Sie hielt dennoch Ausschau nach ihm und heute war er da. Er stand auf der anderen Straßenseite, vor dem Music Exchange, dem Laden, in dem man Rianne meistens antraf. Neben ihm stand ein Mann – ein Mensch –, der auf einer Bodhrán-Trommel eine Musik spielte, die fremd und vertraut zugleich war. Ihr Puls passte sich dem Rhythmus an, die Musik nistete sich in ihrem Bauch ein, als ob der Trommelstock auf ihre Haut schlüge, in ihren Adern.
Dann drehte Niall sich um und entdeckte sie.
»Leslie.« Seine Lippen formten ihren Namen, doch er sprach zu leise; sie konnte ihn nicht hören.
Die Autos fuhren zu schnell, als dass man die Straße sicher hätte überqueren können, doch Niall war kein Mensch, war nie einer gewesen. Er schlüpfte durch die Lücken zwischen den Wagen, und dann war er auch schon bei ihr, hob ihre Hände an seine Lippen, weinte Tränen, die sie nicht weinen konnte.
»Er hat mich nicht zu dir gelassen«, sagte er.
»Ich wollte es nicht. Niemand sollte mich so sehen.« Sie schaute weg, sah zu den Elfen, die sie beobachteten.
»Wenn ich könnte, würde ich ihn umbringen«, sagte er und klang dabei grausamer, als Irial es je tat.
»Das will ich nicht. Nicht …«
»Du würdest es aber wollen, wenn er dir das hier nicht angetan hätte.«
»Er ist nicht böse.«
»Nicht. Bitte.« Niall hielt sie schweigend in den Armen; sie hörte nur seine Tränen. Er benahm sich, als hegte er tatsächlich all diese Gefühle für sie, an die sie geglaubt hatte; als wollte er nichts als sie. Dennoch stutzte sie. Das Verlangen, das sie vorher verspürt hatte – dieser innere Zwang, Niall zu berühren, sich an ihn zu schmiegen –, war nicht mehr da. War das eine Illusion gewesen? Oder war es noch da, wurde aber von Irial verschluckt? Sie betrachtete Nialls wunderschönes, vernarbtes Gesicht und empfand Zärtlichkeit für ihn, doch kein Verlangen mehr.
Die Elfen, die an der Straße standen, beobachteten sie mit schadenfrohen, abstoßenden Mienen. Es erhob sich Getuschel und Gemurmel, als sie darüber spekulierten, was Irials Elfen tun würden, was Irial selbst tun würde, wenn er von dieser Begegnung erfuhr.
Er wird ihn töten. Ja, bestimmt.
Er wird ihm Grund geben, einen Kampf anzuzetteln.
Nichts von alldem. Sie ist es nicht wert …
Doch. Irial hat sich vor ihr noch nie dauerhaft eine Sterbliche genommen. Sie muss es wert sein …
Irial hat uns fast noch nie erlaubt, seinem
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