Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
Irial, der schließlich wieder zurückwich.
»Du lügst nicht.« Er sah sie mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an, der irgendwo zwischen Ehrfurcht und Angst lag.
Leslie genoss es, wieder autonom zu sein. Und jetzt erkannte sie, dass ihre Gefühle für Irial sich kaum geändert hatten.
»Sagst du mir auch, was du für mich empfindest?«, fragte sie.
Er rückte ein Stück von ihr ab. »Warum?«
»Weil ich dich darum bitte.«
»Ich bin froh, dass du weder ins Koma fallen noch sterben wirst«, sagte er, ohne dass sein Tonfall mehr verriet.
»Und?« Sie sah, dass er mit der Versuchung rang, es ihr zu sagen. Aber wenn er nicht wollte, konnte sie ihn nicht dazu zwingen.
»Wenn du bleiben möchtest …«
»Ich kann nicht.« Sie drückte seine Hand. »Das ist übrigens kein Gefühl, sondern ein Angebot. Du müsstest den Unterschied doch nun wirklich kennen. Was ich wissen möchte – und was du mir nicht sagen willst –, ist, ob du jetzt, wo wir nicht mehr miteinander verbunden sind, noch etwas für mich empfindest. Lag es nur an dem Tintentausch?«
»Das Einzige, was sich geändert hat, ist, dass du jetzt frei bist und ich allein mit der Frage zurückbleibe, wie ich meinen Hof satt bekomme.« Er zündete sich die nächste Zigarette an. »Anfangs war es der Tintentausch, aber … das war nicht alles. Ich habe dich sehr gern. Genug, um dich gehen zu lassen.«
»Also …?«, hakte sie nach, da sie es hören wollte.
»Also gilt auch weiterhin, was ich dir versprochen habe: Kein Tintentausch mit Sterblichen mehr.«
Ein paar Sekunden lang saß sie verlegen da. Es fiel ihr nicht leicht zu gehen, auch wenn es richtig war. Es gab noch so vieles, was sie sagen oder fragen wollte. Doch es würde nichts ändern, denn sie vermutete, dass Irial all das bereits wusste. Also sagte sie: »Morgen früh bekomme ich den Schlüssel zu meiner Wohnung. Ash hat mir geholfen … nicht mit Geld, aber sie hat sie für mich aufgetrieben und die Formalitäten erledigt und all das.«
»Sagst du mir Bescheid, wenn du irgendetwas brauchst?« Er klang ebenso zaghaft, wie sie sich fühlte.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin ziemlich sicher, dass es keine gute Idee ist, dich – oder Niall – zu sehen. Ihm hab ich dasselbe gesagt. Ich will diese Welt nicht. Ash hatte Recht damit. Ich will mein Leben leben und verarbeiten, was passiert ist – vor dir.«
»Du wirst es schaffen; es wird dir so bessergehen, als wenn du geblieben wärst.« Er zog noch einmal an seiner Zigarette und blies den Rauch aus.
Sie sah zu, wie er sich in Schleifen in die Luft erhob; es waren keine Schatten, nichts Mystisches oder Ätherisches, einfach der Rauch, den er ausgeatmet hatte – Normalität. Da lächelte sie.
»Ja, das wird es.«
Epilog
Wie so häufig in den vergangenen Wochen beobachtete Niall, wie Leslie auf die Straße hinaustrat. Der sterbliche Junge, der dort schon auf sie wartete, nahm lächelnd auf, was immer sie ihm sagte. Sein Verhalten hatte etwas Behütendes, das Niall gefiel – er ging auf der dem Verkehr zugewandten Seite und behielt wachsam die Sterblichen im Blick, die vorbeigingen. Solche Freunde brauchte sie. Sie brauchte die Art, wie Sterbliche sie zum Lachen brachten. Mich braucht sie nicht. Jedenfalls im Augenblick nicht. Die Schatten unter ihren Augen verblassten; ihr Gang war sicherer, selbstbewusster geworden.
»Sie sieht gut aus, was?«, sagte hinter ihm eine Stimme, die ihm gar nicht willkommen war.
»Verschwinde!« Niall riss seine Augen von Leslie los und wandte sich dem König der Finsternis zu.
Irial lehnte am Zeitungsstand, den Hut tief ins Gesicht gezogen.
Wie kann es sein, dass ich ihn nicht bemerkt habe?
»Und wirkt auch gesünder, jetzt, wo dieses Miststück von Bruder sie nicht mehr belästigt«, fügte Irial hinzu. Mit einer Jovialität, die in dieser Situation seltsam unangemessen erschien, trat er vor und legte Niall einen Arm um die Schulter. Sie waren gleich groß, so dass es fast wie eine Umarmung war.
Niall schüttelte Irials Arm ab. »Was willst du?«, fragte er.
»Nach unserem Mädchen sehen – und nach dir.« Irial beobachtete Leslie mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht, den Niall liebevoll genannt hätte, wäre es nicht Irial gewesen, der vor ihm stand.
Dazu ist er gar nicht fähig. Er ist das Herz des Hofs der Finsternis. Doch Niall wusste, dass er sich selbst zu belügen versuchte, wusste, dass er sich seit Jahrhunderten selbst belog: Irial war nicht so, wie Niall
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