Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
über die Lippen.
Sehr bald.
Sechs
Leslie schlüpfte in die Restaurantküche, ließ sich gegen die Wand sinken und rang um Fassung. Ihre Hände zitterten. Jemand anders sollte sich um diesen seltsamen Gast kümmern; sein Interesse, sein viel zu intensiver Blick, seine Worte jagten ihr Angst ein.
»Alles in Ordnung, ma belle ?«, fragte Etienne, der Chefpatissier. Etienne war ein drahtiger Typ, dessen Zorn sich manchmal an den merkwürdigsten Dingen entzündete, der aber genauso überraschend sehr liebevoll sein konnte. Und das schien heute Abend eher seiner Stimmung zu entsprechen, zumindest in diesem Moment.
»Ja, klar.« Sie zwang sich zu lächeln, doch mit überaus mäßigem Erfolg.
»Krank? Hungrig? Kreislauf?«, erkundigte sich Etienne.
»Mir geht’s gut, ich hab nur einen sehr anstrengenden Gast. Der ist total aufdringlich und alles. Er will, dass ich … Könntest du dir vielleicht überlegen, was man ihm …« Sie unterbrach sich und empfand plötzlich eine unerklärliche Wut auf sich, weil sie auch nur eine Sekunde mit dem Gedanken gespielt hatte, es jemand anderem zu überlassen, ein Menü für ihn zusammenzustellen. Nein . Das würde nicht funktionieren. Ihre Angst und Wut ließen nach. Sie sammelte sich und ratterte eine Liste ihrer Lieblingsgerichte herunter, inklusive Mousse au Chocolat.
»Die Mousse steht heute Abend nicht auf der Karte«, wandte eine der Küchenhilfen ein.
Etienne zwinkerte ihr zu. »Für Leslie schon. Ich halte immer ein Notfall-Dessert für spezielle Anlässe bereit.«
Obwohl das völlig irrational war, empfand Leslie Erleichterung darüber, dass Etiennes dekadentes, mit Rum durchtränktes Schokoladendessert vorrätig war. Der Gast hatte zwar nicht danach verlangt, doch sie wollte es ihm bringen, ihm gefallen. »Du bist der Beste, Etienne!«
» Oui , ich weiß.« Etienne zuckte beiläufig die Achseln, doch sein Lächeln verriet ihn. »Du solltest es unbedingt Robert erzählen. Jeden Tag. Er vergisst nämlich immer, was er an mir hat.«
Leslie lachte; Etiennes unwiderstehlicher Charme half ihr dabei, sich etwas zu entspannen. Es war ein offenes Geheimnis, dass Robert, der Besitzer des Lokals, alles tat, um Etienne bei Laune zu halten, doch Etienne gab immer vor, nichts davon zu bemerken.
»Bestellung für Tisch sechs ist fertig«, rief eine andere Stimme, und Leslie machte sich wieder an die Arbeit. Ihr Lächeln erschien wieder an seinem Platz, als sie die dampfenden Teller hinaustrug.
Im weiteren Verlauf des Abends ertappte Leslie sich ständig dabei, wie sie die beiden seltsamen Gäste anstarrte, und es fiel ihr schwer, sich auf ihre anderen Tische zu konzentrieren.
Wenn das so weitergeht, fällt das Trinkgeld heute spärlich aus.
Es war keineswegs so, dass es sonst nie aufdringliche Gäste gab. Männer schienen davon auszugehen, dass sie sich, nur weil sie als Kellnerin arbeitete, von ein bisschen Charme und Geld beeindrucken ließ. Sie lächelte und flirtete immer ein wenig, wenn sie männliche Gäste bediente; sie lächelte und hörte ein paar Minuten länger zu, wenn sie mit älteren Gästen zu tun hatte; und sie lächelte und war stets aufmerksam, wenn sie Familien mit Kindern zu versorgen hatte. So war das nun mal üblich im Verlaine. Robert erwartete, dass sein Personal die Gäste zuvorkommend behandelte. Doch das hörte selbstverständlich an der Türschwelle des Restaurants auf. Leslie ging nie mit jemandem aus, den sie bei der Arbeit kennengelernt hatte; sie würde noch nicht einmal ihre Telefonnummer weitergeben.
Bei ihm würde ich allerdings eine Ausnahme machen.
Er schien sich wohlzufühlen in seiner Haut und er wirkte wie einer, der sich auch in den zwielichtigeren Teilen der Stadt behaupten konnte. Und er war schön – nicht sein Gesicht, aber die Art, wie er sich bewegte. Es erinnerte sie an Niall. Und wahrscheinlich ist er genauso wenig zu haben.
Er beobachtete sie auf ähnliche Weise, wie Niall es immer tat – mit intensiven Blicken und einem steten Lächeln. Wenn sie in einem Club ein Mann so ansah, erwartete sie, dass er sie anbaggerte. Aber Niall hatte das nicht getan, obwohl sie ihn ermutigt hatte – vielleicht würde dieser hier auch nicht weitergehen.
»Leslie?« Der Gast konnte unmöglich so laut gesprochen haben, dass sie es hörte, doch sie hörte ihn. Als sie sich umdrehte, winkte er sie heran.
Sie nahm schnell noch die Bestellung eines Stammgastes zu Ende auf und musste dabei gegen das Bedürfnis ankämpfen, quer durch
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