Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
den Raum zu ihm hinzurennen. Sie steuerte zwischen den Tischen hindurch, ohne auch nur einmal ihren Blick von ihm abzuwenden, umschiffte einen der Lehrlinge und einen weiteren Kollegen, hielt dann inne und schob sich zwischen einem Paar hindurch, das gerade das Restaurant verließ.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte sie in einem allzu weichen Ton, der fast ein Hauchen war. Sie spürte eine kurze Verlegenheit, die jedoch genauso schnell wieder verschwand, wie sie gekommen war.
»Könnten Sie …« Er unterbrach sich, um jemandem zuzulächeln, der hinter ihr stand. Plötzlich sah er aus, als würde er im nächsten Moment in Gelächter ausbrechen.
Leslie wandte sich um. Eine Gruppe ihr unbekannter Leute stand in einem Kreis um Ashlyn versammelt, die ihr zuwinkte. Robert sah es nicht gern, wenn seine Angestellten Besuch von Freunden erhielten. Ashlyn wusste das auch, aber sie kam trotzdem durch den Raum auf Leslie zu. Leslie drehte sich rasch zu ihrem Gast um. »Entschuldigen Sie. Ich bin sofort wieder für Sie da.«
»Kein Problem, meine Liebe.« Er zog eine neue Zigarette aus seinem Etui und vollführte mit ihr das gleiche Ritual wie zuvor mit den anderen – er ließ das Etui zuschnappen, klopfte die Zigarette auf die Tischplatte und schnippte das Feuerzeug auf. Sein Blick wich nicht von ihr. »Ich habe Zeit.«
Sie wandte sich wieder Ashlyn zu. »Was machst du hier? Du kannst nicht einfach …«
»Deine Kollegin am Empfang hat gesagt, ich dürfte dich fragen, ob du uns bedienst.« Ashlyn zeigte auf die große Traube von Leuten, mit denen sie gekommen war. »In deiner Sektion ist kein Tisch mehr frei, aber ich hab nach dir verlangt.«
»Ich kann nicht«, antwortete Leslie. »Alle meine Tische sind voll besetzt.«
»Eine der anderen Kellnerinnen könnte doch deine Tische übernehmen und …«
»Und mein Trinkgeld kassieren.« Leslie schüttelte den Kopf. Sie wollte vor Ashlyn nicht zugeben, wie dringend sie das Geld brauchte, und auch nicht, wie sehr sich ihr der Magen zusammenzog bei der Vorstellung, ihren unheimlichen, anspruchsvollen Gast nicht weiterzubedienen. »Tut mir leid, Ash. Aber ich kann nicht.«
Doch die Oberkellnerin trat zu ihnen und sagte: »Schaffst du die Gruppe und deine Tische oder soll ich jemanden suchen, der für dich einspringt, damit du dich um sie kümmern kannst?«
Leslie spürte, wie Wut in ihr aufstieg, nur kurz, aber heftig. Sie lächelte gequält, doch sie lächelte. »Ich schaffe beides.«
Ashlyn warf einen feindseligen Blick auf den Tisch hinter Leslie und kehrte wieder zu ihren Leuten zurück. Die Oberkellnerin ging ebenfalls zurück an ihren Platz, und Leslie schäumte vor Wut. Sie drehte sich um und sah ihn an.
Er zog lange an seiner Zigarette und blies den Rauch aus. »Tja. Die Dame scheint ziemlich besitzergreifend zu sein. Der kurze Blick eben sollte wohl heißen: ›Vergreif dich nicht an meiner Freundin‹?«
»Tut mir sehr leid.« Leslie wand sich.
»Seid ihr zwei zusammen?«
»Nein.« Leslie lief rot an. »Ich bin nicht … Ich meine …«
»Gibt es denn jemand anderen? Einen Freund von ihr, mit dem du ausgehst?« Seine Stimme war so köstlich wie Etiennes bestes Dessert, satt und dekadent, reiner Genuss.
Plötzlich fiel ihr Niall ein, ihr Phantasie-Liebhaber. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Es gibt niemanden.«
»Dann sollte ich vielleicht wiederkommen, wenn weniger los ist?« Er fuhr mit einem Finger über die Innenseite ihres Handgelenks, womit er sie bereits zum dritten Mal berührte.
»Vielleicht.« Sie verspürte den seltsamen Drang wegzulaufen – nicht weil er mit einem Mal weniger verführerisch gewesen wäre; aber sein intensiver Blick gab ihr plötzlich das sichere Gefühl, dass er alles andere als ungefährlich war.
Er zog ein Bündel Scheine aus der Tasche. »Für das Essen.«
Damit stand er auf und trat so dicht an sie heran, dass ihr Fluchtinstinkt erneut erwachte; ihr wurde ganz schlecht. Er drückte ihr das Geld in die Hand. »Bis bald.«
Sie trat einen Schritt zurück, von ihm weg. »Aber das Essen ist doch noch gar nicht da.«
Er folgte ihr und kam ihr so nah, als wollte er mit ihr tanzen oder sie küssen. »Ich teile nicht gern.«
»Aber …«
»Keine Sorge, meine Liebe. Ich komme zurück, wenn Ihre Freundin nicht da ist, um mich böse anzusehen.«
»Aber Ihr Essen …« Ihr Blick wanderte von ihm zu den Geldscheinen in ihrer Hand. O mein Gott. Leslie vergaß vor Schreck alles andere, als sie sah, wie viel
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