Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
sie, dass die Ornamente auf dem Lack, die sie anfangs für Flammen gehalten hatte, in Wahrheit eine Horde rennender Tiere darstellten, stilisierte Hunde und Pferde mit seltsam ausgeprägter Muskulatur, um die sich so etwas wie Rauch wand. Einen kurzen Moment lang schien dieser Rauch sich sogar zu bewegen.
Gabriel folgte ihrem Blick und nickte. »Das hab ich gemacht. Der Junge sieht zwar aus wie seine Mutter, aber das Talent hat er von mir.«
»Sieht toll aus«, sagte sie.
Er schlug die Tür hinter ihr zu und ging um das Auto herum zur Fahrerseite. Nachdem er den Schlüssel ins Zündschloss gesteckt hatte, sah er sie mit einem Lächeln an, das Leslie an Anis Miene erinnerte, wenn sie gerade dabei war, etwas absolut Unvernünftiges auszuhecken. »Noch toller ist allerdings, wie schnell sie ist. Schnall dich gut an, Mädel!«
Was sie auch tat. Er fuhr mit quietschenden Reifen an, was man über das Aufheulen seines offenbar frisierten Motors hinweg jedoch bestimmt kaum hörte. Leslie lachte vor Begeisterung laut auf, und Gabriel grinste sie erneut auf diese an Ani erinnernde Art an.
Sie ließ sich von dem Geschwindigkeitsrausch mitreißen und flüsterte: »Schneller.«
Diesmal war es Gabriel, der in Gelächter ausbrach. »Erzähl den Mädchen bloß nicht, dass ich dich vor ihnen zu einer Probefahrt mitgenommen habe, okay?«
Sie nickte, und er beschleunigte, bis er die Höchstgeschwindigkeit auf dem Tachometer noch überschritt, und setzte sie außergewöhnlich früh – und fröhlich – bei der Arbeit ab.
Siebzehn
»Leslie? Leslie!« Sylvie wedelte mit ihrer Hand vor Leslies Gesicht herum. »Verdammt noch mal. Was rauchst du eigentlich?«
»Was?« Leslie neigte das Glas Limonade und schüttete ein wenig davon aus, damit nichts überschwappte. Niall, ihre Albträume von Irial, ihr Versprechen, mit Ashlyn zu reden, diese seltsam verkleideten Leute im Club, ihre surreale Begegnung mit Rabbits Vater, das Zusammentreffen mit diesem Dealer vor dem Haus – all das schwirrte ihr im Kopf herum, bis sie nicht mehr sicher war, was davon wirklich geschehen war. Hab ich ihm wirklich den Arm gebrochen?
»Schlaf dich heute Nacht mal richtig aus oder so. Mit dir ist ja überhaupt nichts mehr anzufangen.« Sylvie schnalzte abschätzig mit der Zunge. Dann zeigte sie in den Gastraum. »Das Paar in Sektion drei will seine Rechnung. Sofort.«
»In Ordnung.« Leslie stellte die Drinks aufs Tablett und tauchte wieder in den Restaurantlärm ein.
Den Rest ihrer Schicht durchlebte Leslie wie in Trance. Lächelnd blieb sie die ganze Zeit auf Autopilot. Bring ihnen die Getränke. Halt ein albernes Schwätzchen. Lächeln. Immer lächeln. Achte darauf, ehrlich zu klingen. Sie hangelte sich von Tisch zu Tisch, von Bestellung zu Bestellung, bis alles erledigt war. So war das Leben: Einfach immer weitermachen, irgendwann geht es vorbei.
Als die Schicht um war, machte sie die Abrechnung, nahm ihr Trinkgeld und steckte die Scheine – mein Tattoo-Geld – gefaltet in ihre Tasche. Sie musste unbedingt daran denken, es nirgendwo herumliegen zu lassen, wo ihr Vater oder Ren es finden konnten. Dann trat sie hinaus und ging den Trestle Way hinunter. Sie war zu müde, um darauf zu achten, wer sonst noch draußen auf den Beinen war. Nur noch schlafen. Nach ein paar Blocks lief sie Ani und Tish über den Weg.
»Leslie!«, kreischte Ani. Sie war absolut unfähig, in einer normalen Lautstärke zu sprechen. »Mein Gott, du siehst ja furchtbar aus!«
Tish stupste ihre Schwester an. »Müde. Sie meinte, du siehst müde aus. Stimmt’s, Ani?«
»Nein. Sie sieht aus, als könnte sie eine Kur gebrauchen.« Ani war wie immer gnadenlos. »Wir gehen ins Crow’s Nest. Kommst du mit?«
Leslie raffte sich zu einem Lächeln auf. »Ich bin nicht sicher, ob ich heute Abend überhaupt noch so weit laufen kann … Hey, ich hab vorhin euren Vater getroffen. Netter Typ.«
Im Gehen erzählte Leslie ihnen davon – ließ aber unerwähnt, dass Gabriel sie zur Arbeit gefahren hatte und dass sie selbst so unglaublich brutal gewesen war. Als sie auf die Harper Street einbogen, bekam Leslie weiche Knie. Ich bin zu müde . Sie atmete ein paarmal tief durch und blieb stehen. Ganz in ihrer Nähe duckten sich einige Leute ängstlich, mit dem Rücken zur Wand, als bedrohte sie etwas Schreckliches. Einer weinte und winselte um Gnade. Leslie konnte sich nicht rühren.
»Das sind bloß Penner, Les. Die haben billiges Zeug eingeworfen oder so was. Los, komm.« Die
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