Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
vorgeben, die Bedeutung von Keenans Worten und Gesten nicht durchschaut zu haben; und Keenan konnte vorgeben, so etwas nie vorgeschlagen zu haben. Aber es lief alles irgendwie auf eine Lüge hinaus, einen Betrug, der Niall Unbehagen bereitete.
Sechzehn
Als Leslie aus ihren Albträumen erwachte, wusste sie einen schrecklichen Moment lang nicht, wo sie war. Dann hörte sie Seth reden. Wahrscheinlich telefonierte er, denn es gab keine Stimme, die ihm antwortete.
In Sicherheit. Bei Seth und in Sicherheit.
Nachdem sie im Bad gewesen war, ging sie nach vorn ins Wohnzimmer.
Seth beendete sein Telefongespräch und sah sie an. »Gut geschlafen?«
Sie nickte. »Danke.«
»Niall kommt gleich her.«
»Hierher?« Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und versuchte sie zu entwirren. »Jetzt gleich?«
»Ja.« Seth sah sie irritiert an, ungefähr so, wie er sie im Club angeschaut hatte, als sie ihn um Rat gefragt hatte. »Er ist ein guter … Einer, dem du in wichtigen Angelegenheiten vertrauen kannst. Er ist fast wie ein Bruder für mich – ein guter Bruder, nicht wie Ren.«
»Und?« Sie fand es furchtbar, aber sie war verlegen. Allein der Gedanke an das Fiasko mit Irial und Niall jagte ihr Angst ein.
»Er mag dich.«
»Das war vielleicht mal so, aber nach allem, was passiert ist …« Sie zwang sich, Seth anzusehen. »Ist auch egal. Ash hat mir eingeschärft, mich von ihm fernzuhalten.«
»Sie hat ihre Gründe.« Er zeigte auf einen Stuhl.
»Ich dachte, er wäre einer von den Guten?«, hakte sie nach, ignorierte aber sein Angebot, sich zu setzen.
»Das ist er auch, aber er …« Seth spielte mit einem der Stecker in seinem Ohr und sah nachdenklich vor sich hin. »… lebt in einer komplizierten Welt.«
Leslie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Sie stand ein paar Minuten schweigend da und rekapitulierte noch einmal den gestrigen Tag, die seltsamen Dinge, die sich ereignet hatten. Trotz Seths Bemerkungen über Niall war sie nicht besonders scharf darauf, ihn zu treffen, jedenfalls nicht jetzt. Aber das spielte ohnehin keine Rolle: Sie brauchte ihre Arbeitsklamotten und die waren zu Hause. »Ich muss nach Hause.«
»Weil Niall kommt?«
»Nein. Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Warte auf ihn. Er wird dich begleiten.« Seth versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber es war trotzdem deutlich zu spüren, dass er nichts davon hielt, dass sie jetzt gehen wollte. »Es muss ja nicht immer ein Haken an allem sein, Les; er bringt dich einfach sicher dahin, wo du hinmusst, und nichts weiter.«
»Nein.« Sie machte ein finsteres Gesicht.
»Wäre es dir lieber, wenn ich dich begleite?«
»Ich wohne da, Seth. Ich kann nicht einfach von jetzt an nicht mehr nach Hause gehen oder andauernd Leute mitbringen.«
»Warum denn nicht?«, fragte er in einem weitaus naiveren Ton, als glaubhaft war.
Leslie schluckte ihre genervte Antwort hinunter und sagte nur: »Das ist einfach nicht realistisch. Nicht jeder hat das Glück …« Sie unterbrach sich. Sie wollte nicht mit Seth streiten, wo er doch einfach nur versuchte, ihr ein Freund zu sein. »Ist auch egal warum. Vorläufig ist das jedenfalls noch mein Zuhause. Und ich muss mich für die Arbeit umziehen.«
»Vielleicht hat Ash ja Klamotten hier, die …«
»Die würden mir ohnehin nicht passen, Seth.« Sie stand auf und griff nach ihrer Tasche.
»Rufst du mich oder Ash an, wenn du was brauchst? Du solltest meine Nummer auch einspeichern.« Er wartete, bis sie ihr Handy herausgeholt hatte, und diktierte ihr dann die Nummer.
Leslie tippte sie ein und steckte das Telefon zurück in ihre Tasche. Um weiteren Einwänden zuvorzukommen, sagte sie: »Ich muss jetzt los, sonst komme ich zu spät zur Arbeit.«
Seth öffnete die Tür und schaute auf das leere Bahnhofsgelände hinaus. Es sah aus, als winkte er jemanden heran, doch sie sah niemanden.
»Esst ihr alle Magic Mushrooms oder so was, Seth?« Sie versuchte, einen neckenden Ton anzuschlagen, da sie keinen Streit anfangen wollte – nicht nachdem er so nett zu ihr gewesen war.
»Nein, keine Pilze.« Seth grinste. »Und Kröten hab ich auch keine abgeleckt.«
»Aha, dann ist das also völlig normal, ins Leere zu starren …?«
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht kommuniziere ich mit der Natur? Oder stelle eine Verbindung zum Unsichtbaren her?«
»So, so.« Ihr Ton war sarkastisch, aber sie lächelte.
Er legte ihr in einer brüderlichen Geste eine Hand auf die Schulter; fest, aber ohne sie
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