Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
Dann streckte sie beide Hände aus und legte sie um Mitchells Gesicht. Sie zog ihn zu sich heran, als wollte sie ihn küssen. Und als er ihrem Gesicht nah genug war, um ihre Worte auf seinen Lippen zu spüren, flüsterte sie: »Nerv mich nicht. Heute nicht. Und auch sonst nie wieder.« Sie drückte sein Gesicht zusammen, bis ihm Tränen in die Augen stiegen. »Sonst verspeise ich dich bei lebendigem Leib. Hast du mich verstanden?«
Damit ließ sie ihn los und er stolperte rückwärts. Die Leute, die sie beobachtet hatten und die noch vor einem Moment gefiedert und seltsam missgestaltet ausgesehen hatten, grinsten ihr zu. Einige nickten. Andere applaudierten. Sie wandte den Blick von ihnen ab. Sie zählten nicht. Das Einzige, was zählte, war, dass ihr Puls wieder ruhig ging.
Mitchell stand einige Schritte von ihr entfernt und stotterte: »Sie … sie … habt ihr gesehen … dieses Miststück hat mir gedroht …«
In diesem Augenblick fühlte Leslie sich unbesiegbar, so als könnte sie in den Kampf ziehen, ohne auch nur berührt zu werden, als sprudelte sie nur so über vor überschüssiger Energie. Sie hatte Lust, loszuziehen, herumzulaufen und zu sehen, wie weit sie gehen konnte. Sie machte ein paar Schritte, doch Niall berührte sie sanft am Arm.
»Da draußen lauern alle möglichen Gefahren.« Er sah ihr direkt in die Augen. »Ich komme wohl besser mit, das ist am sichersten.«
Sicherheit war gar nicht das, wonach ihr gerade der Sinn stand. Sie fühlte sich nicht in Gefahr, sie fühlte sich unbesiegbar, ganz Herrin der Lage, mächtig – diese Worte beschrieben viel eher, was sie empfand. Woher auch immer diese Furchtlosigkeit, diese Stärke, diese Verwandlung kam, sie fing langsam an, Gefallen daran zu finden. Sie lachte. »Ich brauche niemanden, der mich beschützt, aber du kannst mich ja auch einfach so begleiten.«
Obwohl Niall während ihres Gangs durch die schummrigen Straßen die meiste Zeit schwieg, war ihr das nicht unangenehm oder peinlich. Ihre negativen Gefühle, ihre üblichen Sorgen und Ängste schienen wie weggewischt zu sein. Es fühlte sich gut an; sie fühlte sich gut. Ihr Entschluss, sich zu verändern, sich tätowieren zu lassen, erwies sich als eine Art Wendepunkt.
Niall nahm ihre Hand. »Übernachtest du heute bei Seth? Ich habe den Schlüssel.«
Sie wollte ihn eigentlich fragen, wieso es ihn kümmerte, wo sie schlief, aber die Chance, das an einem sicheren Ort zu tun, war Grund genug, sich die Frage zu verkneifen. Auch wenn sie sich unverwundbar fühlte, konnte sie durchaus noch logisch denken. Also fragte sie: »Wo ist Seth denn?«
»Bei Ashlyn im Loft.«
»Und wo willst du übernachten?«
»Draußen.«
»Du willst im Garten schlafen?« Sie wandte den Blick ab und sah ihn aus dem Augenwinkel an. Doch sie sah nicht das Gesicht, das sie kannte. Seine Augen waren nicht einfach nur braun: Sie schimmerten wie nachgedunkeltes Holz, hatten den Glanz von etwas, über das schon zu viele Hände gestrichen hatten. Seine Narbe war so rot wie eine frische Wunde, und gezackt, als hätte ein Tier seine langen Klauen in sein Gesicht geschlagen. Aber was sie plötzlich nach Luft schnappen ließ, war noch etwas anderes: Er glühte leicht, als würden in seinem Inneren Kohlen brennen.
Wie schon zuvor im Crow’s Nest stimmte das, was sie jetzt sah, nicht mit dem überein, was sie zuvor wahrgenommen hatte. Sie schauderte, starrte ihn unverwandt an und streckte ihre Hand aus, um die dicken schwarzen Schatten zu berühren, die über seiner Haut schwebten. Sie zogen ihre Hand an wie ein Magnet.
»Leslie?« Er flüsterte ihren Namen, und es klang wie die Stimme des Windes, der eine schmale Gasse entlangfegte, nicht wie ein menschliches Geräusch.
Sie blinzelte und hoffte, dass er nicht zu den Leuten gehörte, die »Was denkst du gerade?« fragten, denn sie hätte nicht gewusst, was sie dann sagen sollte. Die Schatten schmiegten sich an ihre ausgestreckten Finger, und plötzlich erinnerte sie sich wieder an die Tinte in Rabbits Laden: Diese Schatten hatten von der offenen Flasche auf sie zukriechen wollen.
Niall ergriff wieder das Wort. »Ich würde gern bei dir bleiben, aber ich kann nicht.«
Zögernd wandte sie sich ihm wieder zu und war unermesslich erleichtert, dass er nun wieder normal aussah. Sie schaute die Straße entlang. Alles schien ruhig. Was war das denn eben? Sie wollte ihren Kopf schon wieder drehen, um zu überprüfen, ob er dann wieder anders aussah, doch er führte ihre
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