Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
sie während ihres Gesprächs mit Niall überkommen hatte.
Zweiundzwanzig
Sie verbrachten den ganzen Tag damit, Videospiele zu spielen, zu reden und einfach nur beisammen zu sein. Als Leslie schließlich zur Arbeit aufbrechen musste, hatte sie bereits angefangen, seine Sorgen und hingemurmelten Warnungen vollständig auszublenden. Sie spürte all diese Dinge einfach nicht mehr. Er war besorgt – das konnte sie schmecken –, aber sie fühlte sich gut.
Als Niall sich an der Tür zum Verlaine von ihr verabschiedete, ermahnte er sie noch einmal, weder mit Irial noch mit irgendwelchen anderen Fremden mitzugehen.
»Klar.« Sie küsste ihn auf die Wange. »Sehen wir uns später noch?«
»Du solltest nicht alleine draußen rumlaufen. Ich komme dich abholen und bringe dich zu Rabbits Laden, und danach kann ich dich ja ins Crow’s Nest begleiten.«
»Nicht nötig. Ich kann Ani oder Tish anrufen und sie bitten mich abzuholen oder ich nehme ein Taxi.« Sie lächelte ihm aufmunternd zu und ging hinein.
Die Arbeit verging wie im Flug. Es gab so viel zu tun, dass sie dem Geld, das sie bereits gespart hatte, noch ein nettes Sümmchen hinzufügen konnte. Als ihre Schicht zu Ende war, rechnete sie ab und ging dann zum Pins and Needles hinüber. Bei der Aussicht, erst ihr Tattoo zu bekommen und danach wieder mit Niall zusammenzutreffen, wurde ihr fast schwindlig. Alles lief so gut wie schon sehr lange nicht mehr.
Als sie das Studio betrat, waren im Wartebereich bis auf eine bereits alle Türen zu den angrenzenden Räumen geschlossen. Und aus diesem einen Raum drang Rabbits Stimme: »Wir haben geschlossen.«
»Ich bin’s, Leslie.« Sie ging hinein.
Rabbit saß auf seinem Hocker. Er sah sie besorgt an. »Du kannst es dir immer noch anders überlegen. Wir könnten auch etwas aus der …«
»Mittendrin das Motiv wechseln?« Sie zog die Stirn kraus. »Das ist doch Quatsch. Ehrlich, Rabbit, dein Motiv ist toll. Ich wusste gar nicht, dass du so unsicher bist.«
»Das ist es nicht.«
»Was denn dann?«
»Ich möchte einfach, dass du glücklich bist, Les.« Er zupfte an seinem Ziegenbärtchen. So nervös hatte sie ihn noch nie erlebt.
»Dann vollende mein Tattoo«, sagte sie leise und zog ihr T-Shirt aus. »Komm schon. Das Gespräch hatten wir doch schon.«
Mit einem schwer zu deutenden Gesichtsausdruck zeigte er auf den Sessel. »Du hast es so gewollt. Es wird schon gutgehen … Ich will einfach, dass es dir gutgeht.«
Grinsend setzte sie sich mit dem Rücken zu ihm auf dem Sessel zurecht. »Ja, das wird es auch. Ich werde das schönste, perfekteste Tattoo von allen auf meiner Haut tragen – meine Entscheidung, meine Haut. Warum sollte es mir damit nicht gutgehen?«
Rabbit antwortete nicht, aber er war oft schweigsam, wenn er sich sein Zubehör zurechtlegte. Er ging dabei absolut pedantisch vor. Es war ein gutes Gefühl für Leslie zu wissen, dass er stets die Gesundheit seiner Kunden im Auge behielt. Nicht alle Tätowierer waren so verantwortungsbewusst.
Als sie über ihre Schulter blickte, sah sie Rabbit eine merkwürdige Flasche aufschrauben. »Was ist das?«
»Deine Tinte.« Er schaute sie nicht an.
Sie betrachtete das braune Gefäß: Einen Moment lang hätte sie schwören können, dass schwarze Rauchschwaden wie kleine Flammen über dem Flaschenhals tanzten. »Sieht schön aus, wie abgefüllte Dunkelheit.«
»Ja, das ist es auch.« Er sah kurz in ihre Richtung, sie hatte seine Miene noch nie so ausdruckslos gesehen. »Wenn ich nicht so viel für die Dunkelheit übrighätte, würde ich das gar nicht machen.«
»Das Tätowieren?«
Er nahm die Flasche und befüllte eine Reihe von Farbkappen. In einigen der Farbkappen stand unten bereits eine kristallene Flüssigkeit. In dem schummrigen Licht sah es aus, als teilte sich die Tinte in unterschiedliche Lagen von Dunkelheit, wenn Rabbit etwas von dem Inhalt der Flasche in die einzelnen Farbkappen kippte.
Winzige schwarze Tränen, die aus einem Kelch in den Abgrund fließen. Sie schüttelte den Kopf. Es sind so viele merkwürdige Dinge passiert, dass mir schon ganz seltsames Zeug durch den Kopf geht. »Ist es diese andere Flüssigkeit, die die Farben so verändert, dass es aussieht wie verschiedenfarbige Tinten?«, fragte sie.
»Sie vermischen sich zu dem, was ich für dein Tattoo brauche. Dreh dich um.« Rabbit bedeutete ihr wegzusehen.
Also drehte sie ihm erneut den Rücken zu. Er wischte ihre Haut ab und sie schloss erwartungsvoll die Augen.
Bald summte die
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