Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
dass das alles ein Scherz war, wollte, dass er ihr versicherte, dass sich all diese Verrücktheiten bald aufklären würden. Sie kannte Seth schon, solange sie in Huntsdale lebte. Wenn er ihr sagte, dass es in Ordnung war …
Doch Seth schüttelte den Kopf. »Bitte Irial darum, dir die Sehergabe zu verleihen und dir eigene Wachen zur Seite zu stellen.«
»Wachen? Die können sie auch nicht vor dem schützen, wovor sie am meisten Schutz braucht, nämlich vor ihm«, knurrte Niall. Seine Miene wurde weicher, als er wieder Leslie ansah und flüsterte: »Vergiss nicht: Überleben ist das Einzige, was zählt. Du wirst es schaffen.«
Plötzlich tauchte Tish aus der Dunkelheit vor ihnen auf. »Du solltest Leslie besser nicht anfassen.«
Leslie versuchte sich auf das Mädchen zu konzentrieren. Die ganze Welt war aus den Fugen geraten, und Leslie glaubte allmählich nicht mehr daran, dass sie so bald wieder sein würde wie zuvor. Eine Symphonie von Aromen wehte von den Hauswänden um sie herum zu ihr hin, kroch aus den Räumen ringsum, bombardierte ihre Haut. Sie schloss die Augen und versuchte die einzelnen Geschmacksrichtungen zu identifizieren, während sie durch sie hindurchliefen. Es waren zu viele.
Niall trat langsam zurück und vergewisserte sich, dass sie fest auf ihren Füßen stand, bevor er sie losließ.
»Bist du krank?« Tish befühlte Leslies Stirn und Wangen mit ihren winzigen Händen. »Kommt das von dem Tattoo? Lass mich mal sehen.«
»Mir geht’s gut.« Leslie schlug Tishs Hand weg. Der Gedanke, ihr Tattoo teilen zu müssen – unser Tattoo, meins und Irials –, jagte ihr Angst ein. »Was willst du? Warum bist …«
»Ich hab dich im Club gesehen, hab mich aber nicht zu erkennen gegeben.« Tish sah immer noch nur Leslie an.
Zu erkennen gegeben? Während diese Flut von Emotionen auf sie einstürmte, hatte Leslie Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. »Kennst du Seth schon?«, war alles, was sie herausbrachte.
Tish sah kurz zu Seth hin und musterte ihn mit einem Blick, der Ani alle Ehre gemacht hätte. »Ashs Spielzeug?«
Niall erstarrte, doch Seth legte ihm eine Hand auf den Arm.
»Kapier ich nicht …«, Tish zuckte die Achseln, »aber geht mich ja auch nichts an.«
Damit verschränkte sie ihre Finger mit Leslies und begann zu reden, als seien sie beide allein. »Eben im Club schien es ja so, als hättest du Spaß. Aber Rabbit versohlt mir den Hintern, wenn ich dich nicht zu ihm bringe. Du bist blass. Der erste Tag ist für Menschen immer hart.«
»Menschen?« Leslie hätte beinahe gelacht darüber, wie surreal diese Nacht sich entwickelt hatte. »Und was bist dann bitte schön du ?«
Doch Tish redete einfach weiter und ignorierte ihre Frage. »Komm, lass uns nachsehen gehen, was dir fehlt. Es soll dir ja gutgehen, wenn er dich holen kommt.«
»Mir geht es gut«, beharrte Leslie, obwohl ihr klar war, dass es nicht stimmte. »Aber meinetwegen, lass uns zu Rabbit gehen. Einfach um zu … Er? Wer ist eigentlich er ?«
»Iri«, antwortete Tish fröhlich. »Du möchtest doch bereit sein für ihn, oder?«
»Für Irial?«, wiederholte Leslie und sah über die Schulter zu Niall. Sein Gesicht war eine einzige Maske des Schmerzes. Chicorée, gemischt mit kupfernem Kummer.
»Überleben«, formte er mit den Lippen, während er die Narbe in seinem Gesicht berührte.
Und sie hielt inne, weil ihr wieder einfiel, wie sich ihre Sicht auf Niall für einen Moment ganz plötzlich verändert hatte, als er mit ihr zu Seths Eisenbahnwaggon gegangen war. Sie drehte den Kopf, bis sie Niall und Seth nur noch aus dem Augenwinkel sehen konnte. Seth sah genauso aus wie immer, Niall aber nicht: Seine Narbe glänzte wie eine frische Wunde; seine Augen reflektierten das Licht der Straßenlaterne wie die eines Tieres. Sein Knochenbau hatte sich irgendwie verändert, seine Gliedmaßen waren plötzlich länger und hatten Gelenke, wo Leslie keine hatte. Seine Wangenknochen waren zu scharf geschnitten für ein menschliches Gesicht, zu kantig, und seine Haut glühte, als würde sie von innen beleuchtet, als wäre sie durchscheinend, wie Pergament über einer Flamme. Sie entwand Tish ihre Hand und machte einen Schritt auf ihn zu.
»Er konnte es dir nicht sagen«, erklärte Seth.
Leslie konnte nicht näher an ihn herangehen, fand keine Worte, starrte den glühenden Niall einfach nur an.
Niall erwiderte ihren Blick. »Ich habe mit meiner Königin ausgehandelt, dass ich dich beschützen darf. Es tut mir leid, dass
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