Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
ich versagt habe, Leslie. Ich … Es tut mir so leid.«
»Deine Königin?«, fragte sie, doch sie ahnte die Antwort bereits, bevor sie sie hörte. Sie schaute Seth an.
»Ash«, bestätigte der. »Sie wollte nicht, dass du in diese Welt hineingezogen wirst. Sie wollte dich vor ihnen bewahren.«
Er zeigte hinter sie, wo jetzt ungefähr zwei Dutzend Leute standen, die nicht im Geringsten menschlich aussahen. Wie die Menge im Rath schienen auch sie ausgefallene Kostüme zu tragen. Nur, dass es keine Kostüme waren.
»Was sind das für Wesen?«, fragte sie.
»Elfen.«
Leslie betrachtete sie: Keiner von ihnen war mehr, was er eben noch zu sein schien. Nichts ergab mehr einen Sinn. Ich bin wütend. Ich habe Angst. Doch sie konnte es nicht spüren. Sie empfand Neugier, Überraschung und ein undeutliches Gefühl von Euphorie, von dem ihr der Verstand sagte, dass es sie noch viel mehr erschrecken sollte als alles andere.
»Ash regiert einen der Elfenhöfe, den Sommerhof. Sie teilt sich den Thron mit Keenan«, sagte Seth tonlos, doch Leslie spürte – schmeckte – seine Sorgen, seine Ängste, seine Wut, seine Eifersucht. All das war da, unter der Oberfläche.
Sie schaute wieder Niall an – nicht aus dem Augenwinkel, sondern geradeheraus. Er schien noch immer zu glühen. Sie gestikulierte mit der Hand in seine Richtung. »Was ist das? Warum kann ich dich plötzlich so sehen?«
»Du weißt es ja ohnehin jetzt. Dann brauche ich mich auch nicht mehr hinter einem Zauber zu verbergen.« Niall ging auf sie zu.
»Sie gehört jetzt Irial. Uns .« Tish winkte in die Dunkelheit und mindestens sechs mit Dornen bespickte Männer traten vor Leslie und verstellten Niall den Weg. Gleichzeitig erschienen neben Niall plötzlich die Fünflinge mit den Dreadlocks. Sie knurrten, so wie er. Niall fletschte die Zähne.
Während sie einfach dastand und zusah, erschienen immer mehr Leute. Nein, nicht Leute, irgendwelche Kreaturen, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen. Einige von ihnen trugen seltsame Waffen bei sich – kurze krumme Messer, die aussahen, als wären sie aus Stein und Knochen, und lange Degen aus Bronze und Silber. Andere grinsten brutal, während sie – mit Ausnahme einer kleinen Gruppe, die Leslie einkreiste, und einer anderen, die Seth umstellte – voreinander Aufstellung nahmen.
Tish sah aus wie immer, auch wenn sie mit diesen seltsamen Kreaturen im Bunde zu sein schien, bewegte sich jedoch so langsam vorwärts wie ein Raubtier, das sich an eine Beute anschleicht. »Ich spreche heute Abend in Irials Namen, kümmere mich an seiner statt um Leslie, beschütze sie für ihn. Du wirst es nicht wagen, dich uns in den Weg zu stellen, Niall.«
Nialls angespannte Körperhaltung drückte alles aus, was er nicht sagte. Der brennende Zorn, der in seinen Knochen summte, war wie ein Elixier, in dem Leslie zu ertrinken drohte. Nur allzu gern wollte er sich gewaltsam auf seine Gegner stürzen.
Und so merkwürdig das alles auch war: Leslie wollte ebenfalls, dass er es tat. Sie wollte, dass sie sich alle gegenseitig zerfleischten. Sie wollte ihre Gewalt, ihre Erregung, ihre Rivalität und ihren Hass. Es war wie eine Sehnsucht tief in ihrem Innern, ein Hunger, der nicht ihr eigener war. Sie schwankte, während die Emotionen der anderen in sie hineindrängten.
Dann öffnete sich der Kreis um sie. Tish verneigte sich kurz und nahm Leslies Hand. Sie erhob ihre Stimme laut genug, um über das Knurren und Murmeln der Menge hinweg gehört zu werden: »Möchtest du wegen dieses Mädchens einen Krieg anfangen, Niall?«
»Liebend gern«, antwortete er.
»Und darfst du es auch?«, fragte Tish.
Da trat Stille ein. Schließlich erwiderte Niall: »Mein Hof hat es mir verboten.«
»Dann geh nach Hause«, sagte Tish. Sie machte eine Geste in die Dunkelheit. »Dad, kannst du sie tragen?«
Als Leslie sich umdrehte, sah sie Gabriel vor sich stehen. Die Tattoos auf seinen Armen bewegten sich in dem schummrigen Licht, als wollten sie weglaufen. Auch das ist nicht möglich. Dennoch ist es da. Und sie wollen mich … wofür? Warum? Sie konnte keine Panik empfinden. Aber sie spürte, dass sie da war; eine Panik, die außer Reichweite blieb, die Ahnung eines Gefühls. Was haben sie mit mir gemacht?
»Hallo, du.« Gabriel kam sanft lächelnd auf sie zu. »Komm, ich bring dich hier weg, okay?«
Und sie spürte, wie sie hochgehoben und festgehalten wurde, während Gabriel schneller durch die Straßen lief, als sie sich je in ihrem Leben
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