Sommerlicht Bd. 2 Gegen die Finsternis
schönen Erinnerungen, vor denen Niall davongelaufen war, alle Schrecken des Hofs der Finsternis überschwemmten seinen Verstand wie sumpfiger Morast. Dann fühlte es sich an, als ob er all das trank, so wie er diesen viel zu süßen, mühsam aus seinem Gedächtnis verbannten Wein getrunken hatte. »Hör auf.«
Irial ließ ihn los. »Ich weiß, dass Keenan dich getäuscht und betrogen hat. Ich weiß, dass er dich auf unser Mädchen angesetzt hat. Gabriel hat mit angesehen, wie verzweifelt du dein Verlangen nach ihr bekämpft hast. … Ich werde dich nicht täuschen, nicht noch einmal. Ich würde dich in meinem Haus wieder willkommen heißen, in dem auch Leslie wohnen wird. Ich würde dir noch immer meinen Thron anbieten, wenn du bereit bist.«
Niall wurde blass. Er wäre bereit gewesen, alles zu erdulden, was nötig war, um Leslies Freiheit zu erlangen. Aber die Königswürde ? Zuneigung? Damit hatte er nicht gerechnet. Das ist ein Trick, wie immer. Es war nie etwas echt daran, was wir waren. Niall entschloss sich, das alles zu ignorieren. »Lässt du sie gehen, wenn ich dir im Gegenzug meine Gefolgschaft anbiete?«
»Nein. Sie bleibt, aber wenn du mit ihr zusammen sein willst, bist du immer willkommen.« Irial erhob sich und verneigte sich tief, als sei Niall ihm gleichgestellt. »Ich werde nicht zulassen, dass mein Elfenvolk leidet, selbst für dich nicht. Du kennst jetzt meine Geheimnisse, weißt, was ich bin, was ich dir immer noch anbiete. Ich verspreche dir, dass ich sie so glücklich machen werde, wie ich kann. Ansonsten … komm mit uns nach Hause oder lass es bleiben. Es ist deine Entscheidung. Es war immer schon deine Entscheidung.«
Niall starrte ihn an, sprachlos und unsicher, welche Antwort er darauf geben sollte. Er hatte viel Zeit damit verbracht, alles aus seiner Erinnerung zu verdrängen, was ihn mit Irial verband, sich nicht nach jenen Jahren zurückzusehnen und Irial gegenüber nichts von alldem zuzugeben, wann immer ihre Wege sich kreuzten. Jetzt begriff er, dass seine Geheimnisse, egal wie sorgsam er sie auch gehütet hatte, für Irial immer offen dagelegen hatten. Wenn der König der Finsternis seine Gefühle lesen konnte, sie schmecken konnte, dann hatte er bei jeder ihrer Begegnungen über Nialls Schwäche Bescheid gewusst. Er konnte die ganze Zeit in mir lesen wie in einem offenen Buch. Aber Irial brachte ihn nicht in Verlegenheit deswegen. Stattdessen bot er ihm dasselbe an wie schon Jahrhunderte zuvor – und Niall antwortete nicht, konnte nicht antworten.
»Du hast lange Zeit Keenan gedient und dabei für eine vermeintliche Schuld gebüßt«, sagte Irial. »Wir sind, wie wir sind, Niall, weder so gut noch so schlecht, wie die anderen uns darstellen. Und unsere Natur ändert nichts an der Aufrichtigkeit unserer Empfindungen. Die Frage ist nur, ob wir diesen Empfindungen auch nachgeben dürfen.«
Damit tauchte er in die Menschenmenge ein, um mit den Sterblichen zu tanzen und mit jeder Faser so auszusehen, als gehörte er zu ihnen.
Achtundzwanzig
Es war Abend, als Leslie in ihrem eigenen Zimmer erwachte, in den Kleidern vom Vorabend. Sie hatte mehr als zwölf Stunden geschlafen, so als kämpfte ihr Körper gegen eine Grippe oder einen Kater. Richtig gut ging es ihr aber immer noch nicht. Die Haut um ihr Tattoo spannte und fühlte sich ganz dünn an. Aber sie brannte oder juckte nicht, war also nicht entzündet. Es fühlte sich eher zu gut an – als ob dort plötzlich zusätzliche Nerven pulsierten.
Sie hörte, dass unten ein Zeichentrickfilm lief. Ren lachte. Jemand anders hustete. Andere sprachen leise miteinander, doch sie konnte nur einzelne Satzfetzen verstehen. Die vertraute Panik stieg in ihr auf, die Angst, zu Hause zu sein und keine Ahnung zu haben, wer von den anderen unten war.
Sie fragte sich, wann ihr Vater zuletzt da gewesen war. Es war lange her, dass sie ihn gesehen hatte. Wenn er gestorben wäre, hätte jemand angerufen. Sie machte sich keine Sorgen um ihn, wie früher so häufig. Sollte ich aber. Wieder ergriff sie Panik. Und dann verschwand das Gefühl einfach. Sie wusste, dass sie sich verändert hatte und dass Irial, der diese Veränderung bewirkt hatte, kein Mensch war.
Bin ich denn noch ein Mensch?
Was immer Irial getan hatte, was immer Rabbit getan hatte, was immer ihre Freunde vor ihr geheim gehalten hatten … Sie wollte wütend sein. Ihr Verstand sagte ihr, sie sollte sich verraten fühlen, verzweifelt sein – sogar zornig. Sie versuchte, diese
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