Sommerlicht Bd. 3 Für alle Ewigkeit
König um seine beiden Sterblichen trauern.«
»Seine Sterblichen? Seth ist mein –«, begann Ashlyn.
Doch Bananach krächzte. Die Schattenschwingen auf ihrem Rücken entfalteten sich und sie zog ihre Krallen in einer gespielten Liebkosung über Ashlyns Arm. »Arme kleine Ash. Ich frage mich, ob er dir seine Trauer nur vorspielt. Nur so tut, als würde er dir vorwerfen, dass du ihm den Jungen weggenommen hast.«
Ashlyn sah, wie sich ein Schattentableau vor ihnen entfaltete. Anders als damals im Park, wo das Bild vollkommen echt gewirkt hatte, war das, was jetzt vor ihnen in der Luft hing, offenkundig eine Illusion. Ein Schlachtfeld erstreckte sich vor ihnen. Der Boden war zerwühlt. Elfen lagen zerschmettert und blutend auf der Erde. Schatten von Toten schwebten im Rauch von Scheiterhaufen. Mitten unter die Elfen waren Sterbliche gemischt – außer sich und dem Wahnsinn verfallen, tot und leer.
In der Mitte des Gemetzels stand ein Tisch aus sonnengebleichten Knochen. Aufgestapelte Schädel dienten als Beine; mit Sehnen zusammengebundene Rippen, Arme und Wirbelsäulen bildeten die Tischplatte. Am Kopf des Tisches saß Bananach – und ausgestreckt vor ihr lag Seth.
Die Schatten-Bananach in dem Bild suchte Ashlyns Blick und sagte: »Wenn ich Königin wäre, würde ich seine Innereien verspeisen, nur um dich leiden zu sehen.« Dann schlug sie ihre Krallen in Seths Bauch.
Er schrie auf.
Das ist nicht real. Es ist ganz und gar nicht real. Aber das, was die Kriegselfe bei ihrer letzten Begegnung gesagt hatte, steigerte Ashlyns Angst noch. Ist das hier ein ›Was-wäre-wenn‹? Wird es passieren, wenn ich die falsche Entscheidung treffe?
Keenan zog sie an sich. »Das ist nicht echt, Ashlyn. Schau weg. Schau sofort weg.«
Das Bild zerstob, als eine der Vilas durch den Raum wirbelte. Ihre zierlichen Schuhe, die mit silbernen Ketten an ihre Füße gebunden waren, klackerten bedrohlich, während sie sich über den Betonboden bewegte.
»Das ist eine Illusion«, sagte Keenan. »Seth ist nicht hier.«
»Bist du sicher, kleiner König? Kannst du dir überhaupt irgendeiner Sache sicher sein?« Bananach streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf Ashlyns inzwischen verheilte Stichwunden. »Aufregungen, wunderhübsche Aufregungen, die mir meine Gewalt bringen werden …«
Ashlyn musste sich in Erinnerung rufen, dass sie keine Sterbliche mehr war und sich nicht so leicht einschüchtern ließ. Sie legte ihre Hand auf die krallenbewehrten Finger der Rabenelfe. »Hast du Seth? Hast du ihn mitgenommen?«
»Was für eine gute Frage«, sagte Niall.
Der König der Finsternis war hinter ihnen in den Raum getreten. Er blieb neben Bananach stehen. »Na?«
»Sie waren in meinem Nest; sie sind in deiner Gegenwart. Der Sterbliche ist nicht hier. Aber du weißt das …« Sie lehnte sich an seine Schulter und klappte ihre Flügel nach vorn, um ihn damit zu umfangen. Ihre Flügel bestanden noch immer vor allem aus Schatten, waren weitgehend immateriell, doch auch keine reine Illusion.
»Schweig.« Niall ging zum Thron, der auf einem erhöhten Podest stand. Anders als der Sommer- und der Winterhof hatte der Hof der Finsternis tatsächlich solch einen erhöhten Platz für den Thron. Der Hof der Finsternis pflegte eine bizarre Mischung aus altmodischen Riten und irritierenden Perversitäten.
Ashlyn machte ein paar Schritte nach vorn. Keenan blieb an ihrer Seite. Einige ihrer Wachen rückten nach; andere verteilten sich im Raum – nicht dass sie in diesem Durcheinander effektiv hätten eingreifen können. Bananach stellte nicht die einzige Bedrohung dar: Überall standen Ly Ergs, Glaistigs und Gabrielhunde, und auch Cath Pulac war da. Ashlyn erschauderte beim Anblick der Katzenelfe. Wie die große Sphinx in der Wüste nahm auch sie typischerweise nur eine Beobachterrolle ein.
Warum hält sie sich bloß am Hof der Finsternis auf?
Ashlyn und Keenan tauschten einen Blick, als sie sahen, welche Elfen sich in Nialls Nähe herumtrieben. Bananachs Kriegsgeflüster war noch weitaus beängstigender, wenn man in einer Höhle stand, die von Angst- und Gewaltversprechen überquoll.
Niall machte es sich auf seinem Thron bequem und beobachtete sie mit einer Mischung aus Belustigung und Spott. »Warum seid ihr hier?«
»Ich muss wissen, was mit Seth passiert ist. Wo er ist. Warum er gegangen ist.« Ashlyn war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Machen Königinnen vor anderen Herrschern einen Knicks, wenn sie sie um einen Gefallen
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