Sommerlicht Bd. 3 Für alle Ewigkeit
trotzdem beklemmend. Während ihres ersten Verwandlungsschubs war sie oft voller Angst, Selbstzweifel und Sorgen gewesen – alles Gefühle, die sie über die Jahre verborgen hatte, wann immer sie Elfen traf, ihre Sehergabe aber geheim halten musste. Diese Angst um ihre Sicherheit hatte inzwischen eigentlich nachgelassen, aber jetzt war sie wieder da, und zwar stärker als je zuvor.
»Möchtest du, dass ich mit reingehe?«, fragte Keenan tonlos.
»Wenn er Nein gesagt hat … wenn er etwas weiß, es mir aber nicht sagt, weil …« Sie sah ihn flehend an. »Ich brauche Antworten.«
Keenan nickte. »Ich bin hier, wenn du mich brauchst.«
»Ich weiß.« Ashlyn öffnete die Tür, um sich zum König der Finsternis zu begeben.
Niall saß auf dem Sofa und sah aus, als würde er sich ebenso wohlfühlen wie damals, als er noch hier gewohnt hatte. Der vertraute Anblick entspannte Ashlyn ein wenig – seine verächtliche Miene jedoch nicht.
»Wo ist er?«
»Wie bitte?« Ashlyn bekam weiche Knie.
»Wo. Ist. Seth.« Niall sah sie wütend an. »Er war nicht zu Hause; er geht nicht ans Telefon. Und im Crow’s Nest hat ihn auch niemand gesehen.«
»Er ist …« Die ganze Ruhe, um die sie sich so bemüht hatte, verflog.
»Er steht unter meinem Schutz, Ashlyn.« Nialls schattenhafte Gestalten erschienen, hockten sich hinter ihn und warfen sich in abschätzige Posen. Eine männliche und eine weibliche nahmen rechts und links neben ihm Platz, ihre immateriellen Körper aufmerksam vorgebeugt. »Du kannst ihn mir nicht einfach vorenthalten, nur weil dir nicht passt …«
»Ich weiß nicht, wo er ist«, unterbrach sie ihn. »Er ist weg.«
Die Schattengestalten veränderten aufgeregt ihre Haltung, als Niall fragte: »Seit wann?«
»Seit achtzehn Tagen«, gestand sie.
Er ließ seinen Blick mehrere Sekunden lang strafend auf ihr ruhen, ohne dass er etwas sagte oder sich von der Stelle rührte. Dann erhob er sich und verließ den Raum.
Sie lief hinter ihm her. »Niall! Warte! Was weißt du? Niall!«
Der König der Finsternis bedachte Keenan mit einem feindseligen Blick, blieb jedoch nicht stehen. Er öffnete die Tür und verschwand.
Ashlyn wollte ihm nachlaufen, doch Keenan hielt sie fest, bevor sie Niall erreichen konnte.
»Er weiß etwas! Lass mich –« Sie riss sich von Keenan los. »Er weiß etwas!«
Keenan versuchte weder, sie noch einmal zu berühren, noch, die Tür zu schließen. »Ich kenne Niall seit neunhundert Jahren. Wenn er geht, ist es unklug, ihm nachzulaufen. Außerdem gehört er nicht mehr unserem Hof an. Er ist nicht mehr vertrauenswürdig.«
Sie starrte in den leeren Flur draußen vor dem Loft. »Er weiß etwas.«
»Vielleicht. Vielleicht ist er aber auch bloß wütend. Oder er geht einem Verdacht nach.«
»Ich möchte, dass Seth nach Hause kommt.«
»Ich weiß.«
Ashlyn schloss die Tür und lehnte sich dagegen. »Niall wusste nicht, dass er wegwollte. Er hat also nicht nur mich verlassen.«
»Niall wird ihn ebenfalls suchen.«
»Was, wenn ihm etwas zugestoßen ist?«, fragte sie und sprach damit eine Angst aus, die sie sogar vor sich selbst zu verbergen suchte. Es war leichter zu glauben, dass er sie verlassen hatte, als dass er verletzt und unauffindbar war.
»Er hat seine Schlange mitgenommen. Und er hat die Tür hinter sich abgeschlossen.«
Sie standen schweigend da, bis Keenan auf das Büro zeigte. »Möchtest du jetzt die Hinweise durchgehen, die Tavish für uns gesammelt hat? Oder möchtest du dich lieber abreagieren?«
»Zuerst abreagieren.«
Keenan lächelte, und sie gingen in eins der Sportstudios, um auf die Sandsäcke und Speedbälle einzudreschen, die dort hingen.
Später, nachdem sie auf die Säcke eingeschlagen hatte, bis ihre Bauchmuskeln so sehr schmerzten, dass sie das Gefühl hatte, ihr würde schlecht, wenn sie weitermachte, duschte Ashlyn schnell in dem Badezimmer, das an ihr Schlafzimmer angrenzte. Bis vor kurzem hatte sie es nie als ihr Zimmer betrachtet. Es war ein Ort gewesen, an dem sie schlafen und ein paar Sachen verstauen konnte, nicht mehr und nicht weniger. Nachdem Seth gegangen war, hatte sich das geändert. Sie hatte sich oft in diesen Raum zurückgezogen, um sich vor der Welt zu verstecken – und ihn nur wieder verlassen, um das Loft zu durchstreifen und bei ihren Elfen zu sein. Sie brauchte sie, brauchte sie um sich.
Was nicht hieß, dass sie nicht erstaunt war, als sie Siobhan im Schneidersitz mitten auf ihrem gewaltigen Himmelbett sitzen sah. Die
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