Sommerlicht Bd. 3 Für alle Ewigkeit
streifte ihn mit der Aufmerksamkeit eines Kolibris, der kurz innehält und wieder davonschießt. Sie lenkte ihre Augen wieder auf das Brett vor sich. Das Spiel sah so ähnlich aus wie Schach, nur um ein Mehrfaches größer und mit sechs Sätzen von edelsteinbesetzten Figuren.
»All seine Eingeweide sind noch drin.« Bananach strich Seth über den Kopf. »Weißt du noch, als sie uns Opfergaben dargebracht haben?«
Sorcha nahm eine transparente grüne Figur, die eine sichelartige Waffe hielt, vom Brett. »Du hättest ihn nicht herbringen sollen. Du solltest nicht mal hier sein.«
Bananach legte ihren Kopf auf diese irritierende, an einen Vogel erinnernde Art schief und fragte in einer Art Singsang: »Soll ich ihn also behalten? Soll ich ihn wieder hinter den Schleier tragen, ihn vom Spielfeld nehmen? Soll ich ihn auf die Türschwelle des legitimen Regenten legen und sagen, ich hätte ihn aus deinem Reich dort hingebracht? Soll ich das Lamm wieder mitnehmen, meine Schwester?«
Seth stutzte, als er etwas in Sorchas Augen aufflackern sah, das er nicht einordnen konnte. Er war gerade erst hier angekommen und konnte sich nicht vorstellen, bei wem Bananach ihn abgeben oder mit welchen Äußerungen sie Ärger provozieren könnte. Die einzigen Regenten, die mich kennen, sind Ash, Don und Niall, und denen könnte ich doch erklären – der Gedanke brach ab, als ihm schlagartig klar wurde, dass sie ihn nicht lebendig vor irgendjemandes Tür zurücklassen würde. Wenn Sorcha ihm nicht erlaubte zu bleiben, war das sein Todesurteil.
Er schaute sich um, als könnte plötzlich eine Waffe in Reichweite liegen. Nichts. Einige Sätze aus den alten Geschichten, die er gelesen hatte, schossen ihm wirr durch den Kopf. Weißdorn und Gartenraute, Distel und Rose … Er wusste, dass es Kräuter und Pflanzen gab, die ihm Schutz boten. Eine ganze Reihe davon bewahrte er in seinem Waggon auf und trug sie häufig bei sich. Er kramte in seinen Taschen. Worte … Schwüre … Was konnte er ihnen anbieten, damit sie ihn leben ließen? Bananach hatte versprochen, ihn wohlbehalten bei Sorcha abzuliefern , aber weiter nichts.
Sorcha hielt die Figur kurz in der Hand, bevor sie sie auf das Feld neben dem vorherigen setzte. »In Ordnung. Er darf bleiben.«
Die Rabenelfe drückte eine ihrer krallenbewehrten Hände auf seine Brust und krümmte ihre Finger dabei ganz leicht, als wollte sie ihn mit ihren Fingerspitzen durchbohren. »Sei jetzt ein braver Junge. Mach, dass ich stolz auf dich bin. Mach, dass deine Träume in Erfüllung gehen.«
Damit drehte sie sich um und ging.
Einige Sekunden stand Seth einfach nur da und wartete darauf, dass Sorcha das Wort an ihn richtete. Er hatte so viel über sie gehört – nicht in direkten Mitteilungen, sondern eher in flüchtigen Kommentaren, in denen sie stets als überkorrekt und förmlich geschildert wurde –, dass er es für besser hielt, zu warten, bis sie die Initiative ergriff.
Sie sagte kein Wort.
Boomer veränderte seine Position. Er glitt über Seths Arm nach unten, bis er zu seinen Füßen lag.
Die Königin des Lichts saß weiter schweigend da.
Was jetzt?
Es war unwahrscheinlich, dass er länger als sie ausharren konnte. Er spähte zur Tür, durch die Bananach verschwunden war, dann wieder zur Königin. Sie schaute jetzt nicht mehr auf ihr rätselhaftes Brettspiel; sie starrte in die Ferne, als sähe sie irgendwelche Dinge in der Luft.
Vielleicht tut sie das ja wirklich.
Nach einiger Zeit fasste er sich ein Herz und sprach sie an. »Du bist Sorcha, stimmt’s?«
Der Blick, mit dem sie ihn bedachte, war nicht grausam, aber er war auch alles andere als einladend. »Ja, und du bist?«
»Seth.«
»Der sterbliche Gefährte der neuen Königin.« Sie nahm geistesabwesend eine neue Spielfigur vom Feld. »Natürlich. Nicht viele Sterbliche kennen meinen Namen, aber deine Königin ist –«
»Sie ist nicht meine Königin«, unterbrach er sie. Irgendwie hatte er in diesem Moment das Gefühl, es war wichtig, das richtigzustellen. »Sie ist meine Freundin. Ich bin niemandes Untertan.«
»Ich verstehe.« Sie ließ die violette Figur wieder sinken und strich ihren gewaltigen Rock glatt. »Nun denn, Seth, der niemandes Untertan ist, was führt dich zu mir?«
»Ich möchte ein Elf werden«, sagte er ohne Umschweife und sah sie an.
Sorcha schob das Brettspiel beiseite. Ein Hauch von etwas, das Interesse sein konnte, huschte über ihr Gesicht. »Das ist ein kühnes Ansinnen … und keins, zu
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