Sommerlicht Bd. 3 Für alle Ewigkeit
Sie ging nirgends allein hin. In Keenans Gesellschaft fühlte sie sich am sichersten. Zusammen waren sie stärker. Zusammen in ihrem Loft waren sie sicherer.
Nach den ersten Tagen hatte er begriffen, dass er besser keine unangenehmen Fragen nach ihrem Befinden stellte oder – am allerschlimmsten – sich gar erkundigte, ob Seth schon angerufen hatte. Stattdessen gab er ihr Aufgaben, um sie abzulenken. Durch die Arbeit für die Schule, die Hofangelegenheiten und das neue Selbstverteidigungstraining war sie abends erschöpft genug, um jede Nacht zumindest einige Stunden zu schlafen.
Manchmal erwähnte Keenan im Vorübergehen, dass die Suche nach Seth noch keine Fortschritte gemacht hatte. Aber das wird sie , versprach er. Sie kamen nur deshalb so langsam voran, weil sie bei ihren Nachforschungen behutsam vorgingen. Es könnte Seth in Gefahr bringen, wenn seine Abwesenheit öffentlich bekannt wird , hatte Keenan erklärt. Wenn er uns verlassen hat, ist er verwundbar. Das verlangsamte die Sache mehr, als ihr lieb war, aber in Gefahr bringen – oder ist er bereits in Gefahr? – wollte sie ihn natürlich noch viel weniger. Ob er freiwillig gegangen war oder nicht, spielte keine Rolle. Sie liebte ihn noch immer.
Das Einzige, was sie bislang herausgefunden hatten, war, dass er ins Crow’s Nest gegangen war und noch ein paar Stunden mit Damali zusammengesessen hatte, einer Sängerin mit Rastalocken, mit der er mal eine Art Affäre gehabt hatte. Die Wachen hatten ihn nicht weggehen sehen; eine Rauferei mit mehreren Ly Ergs, die eins der jüngeren Sommermädchen entführt hatten, hatte sie abgelenkt. Als sie zum Crow’s Nest zurückkamen, war Seth bereits hinausgeschlüpft, doch Skelley hatte danach noch mit ihm gesprochen. Er war wohlbehalten bei sich zu Hause , wiederholte Skelley immer wieder. Ich weiß nicht, wie er von dort verschwunden ist. So etwas hat er noch nie vorher gemacht . Seth hatte sich davongestohlen; er hatte Boomer mitgenommen; er hatte aufgeregt geklungen. Die Hinweise ergaben einfach kein logisches Bild. Ist er aus freien Stücken gegangen? Es sprach nichts dagegen, außer, dass diese Art des Abgangs nicht zu ihm passte.
Aber passt das wirklich nicht zu ihm?
Seth war nicht der Typ für feste Beziehungen. Jedenfalls hatte er vor ihr noch nie eine gehabt; er war zunehmend angespannt gewesen wegen ihrer Verbindung zu Keenan; und er hatte ganz gut geklungen, als er sie anrief – wenn auch etwas komisch, aber sich per Mailbox von jemandem zu verabschieden war auch merkwürdig. Vielleicht ist er seine Familie besuchen gefahren. Sie hatte stundenlang darüber nachgegrübelt, hatte Elfen an die verschiedensten Orte ausgesandt, hatte die Listen der verkauften Fahrkarten am Busbahnhof und am Hauptbahnhof überprüfen lassen. Nichts davon beruhigte sie – oder brachte Antworten.
Keenan zu sehen, war das Einzige, was diese riesige Anspannung in ihr lösen konnte. Heute begrüßte er sie bei ihrer Ankunft im Loft allerdings mit einem Satz, den sie mit äußerst gemischten Gefühlen aufnahm: »Niall möchte dich sprechen.«
»Niall?« Der Gedanke, mit ihm zu reden, machte ihr sowohl Angst als auch Hoffnung. Am Tag nach Seths Verschwinden war sie vergeblich zu ihm gegangen, da Niall sich geweigert hatte, sie zu empfangen.
Keenans normalerweise offen daliegenden Gefühle waren so unterdrückt, dass sie nicht sagen konnte, was er empfand. »Nach eurem Treffen können wir Tavishs Hinweise durchgehen und dann zusammen zu Abend essen.«
Sie konnte nicht gegen dieses Gefühl der Enge in ihrer Brust an. »Niall ist hier?«
Über Keenans Gesicht huschte ein kurzer Anflug von Wut. »Er wartet in unserem Büro. Er will dich allein sehen.«
Ashlyn korrigierte ihn nicht, wie sie es früher getan hätte; das Büro war jetzt auch ihres. Das hier war ihr Zuhause. Es musste es sein. Unsterblich nur dann, wenn ich nicht ermordet werde. Bevor sie zur Elfe geworden war, hatte sie nie über Endlichkeit oder Unendlichkeit nachgedacht, doch seit ihrer Verwandlung versetzte sie die Vorstellung, die Ewigkeit könnte zu einem kurzen Moment zusammenschnurren, in Angst und Schrecken. Die jüngsten Drohungen von Bananach, Donia und Niall ließen die Möglichkeit eines Endes allzu real erscheinen. Es gab Elfen, die ihr alles nehmen konnten – und einer von ihnen wartete auf der anderen Seite der Tür auf sie.
Zu wissen, dass Keenan nur eine Sekunde entfernt war, half zwar, aber der Gedanke an ein Wiedersehen mit Niall war
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