Sommerlicht Bd. 4 Zwischen Schatten und Licht
König, bei allem Schutz, den er Familienmitgliedern und Freunden bot – nicht hören, was sie wirklich brauchte. Er würde ebenso wenig sein Bett mit ihr teilen wie ihren Vater zwingen, sie unbeaufsichtigt mit den Hundselfen losziehen zu lassen.
»Ich muss gehen«, murmelte Ani und kehrte ihm den Rücken zu, bevor sie der Versuchung nachgab, ihn anzubetteln. Er gab ihr genug, um sicherzustellen, dass sie nicht verhungerte. Doch der ehemalige König der Finsternis würde ihr nicht helfen, ihren Hunger vollständig zu stillen. Sie würde hier und da ein paar Kostproben finden müssen, um das nagende Gefühl in ihrem Innern zum Schweigen zu bringen.
Wie immer.
Vier
Rae betrat das Bild einer winzigen Küche. Ani lehnte im Türrahmen. Im angrenzenden Raum spielte sich eine Erinnerung ab. Das Tableau war in einer anderen Zeit angesiedelt als der, in der Rae gelebt hatte. Aber es war ihr trotzdem vertraut: Es handelte sich um eine Erinnerung, die in Anis Träumen regelmäßig wiederkehrte. Also wartete Rae, dass sie ihren Lauf nahm.
»Erzählst du mir von ihr?«, fragte Ani ihre Schwester.
»Von wem?« Tish unterbrach ihre Mathe-Aufgabe mit dem Bleistift über dem Heft.
»Du weißt schon. Von ihr.« Ani übte auf dem Sofa Radschlagen. Bis Rabbit aus dem Laden kam, um sie zu ermahnen, dass sie das lassen sollte, würde sie Räder schlagen und in dem winzigen Wohnzimmer herumturnen.
»Ich war sechs. Woher soll ich irgendwas wissen?« Tish verdrehte die Augen. »Ich weiß noch, dass sie nett war. Sie hat Bücher gelesen. Da war eine Decke, die Dad ihr gegeben hat. Ihre Haare waren hellbraun, wie deine.«
»Dad hat sie besucht?«
»Mmh, mmh.« Tish hatte keine Lust mehr zu reden. Sie war sehr traurig, was sie zu verbergen versuchte. »Geh und lies was oder so, Ani.«
Tishs Bleistift machte kratzende Geräusche auf dem Papier – wie Kakerlaken, wenn sie mit ihren zahlreichen Beinchen über Boden oder Wände laufen. Das war einer der vielen Gründe, warum Ani Schulaufgaben hasste. Tish hörte allerdings selbst nie, wie laut ihr Stift war. Mit ihren Ohren stimmte irgendwas nicht.
Ani drehte sich zu ihr und schnappte sich den Bleistift. »Fang mich.«
»Gib ihn zurück!«
»Klar … aber erst musst du mich fangen.«
Tish sah kurz auf die Uhr. Dann schnaubte sie. »Als ob du schneller laufen könntest als ich.«
Und weg war Ani. Aber nicht so schnell, wie sie konnte, weil Tish dann traurig geworden wäre. Tish traurig zu machen, war das Einzige, was Ani niemals mit Absicht getan hätte.
Es war ungewöhnlich, dass Ani Tish beschützen wollte. Die Erinnerung an ihr Anderssein, an die bewusste Wahrnehmung der Unterschiede zwischen ihr und ihrer Schwester war zu einem zentralen Thema in ihren Träumen geworden.
»Geht es ihr gut? Deiner Schwester?«, fragte Rae, um Ani abzulenken.
Ani drehte sich zu ihr um. »Ja. Tish geht’s gut. Ich vermisse sie.«
»Und du? Geht es dir auch gut?« Rae materialisierte ein Sofa, das sie an ihr eigenes Wohnzimmer aus längst vergangenen Zeiten erinnerte.
Ani setzte sich auf die Armlehne und hielt dort mühelos das Gleichgewicht. Selbst in ihren Träumen besaß sie in ihren Bewegungen die angeborene Anmut eines Tiers.
»Im Großen und Ganzen geht’s mir gut.« Ani sah Rae nicht an.
Ihre Worte waren keine Lüge; andernfalls hätte die Hundselfe sie nicht aussprechen können. Nicht mal hier. Sie befanden sich gemeinsam in einem Traum, aber da Rae eine Traumwandlerin war, war auch dies eine Art von Realität. Und manche Regeln, Elfenregeln, gelten in jeder Realität.
»Im Großen und Ganzen?« Rae stellte sich eine hübsche Tasse Tee und ein paar Sandwiches, Törtchen und andere leckere Dinge vor. In Träumen konnte sie die Welt um sich herum nach ihrem Willen gestalten, weshalb die Leckereien im gleichen Moment, in dem sie sie sich ausgedacht hatte, vor ihnen erschienen. »Magst du ein Stück Gebäck?«
Ani griff gedankenverloren zu. »Es ist komisch, vom Essen zu träumen.«
»Du brauchst ein bisschen Trost, also träumst du vom Essen«, sagte Rae. Anders als Elfen konnte Rae durchaus lügen. »Über deine Schwester nachzudenken, hat dich angestrengt. Das ergibt doch durchaus Sinn.«
Die Hundselfe glitt von der Sofalehne auf das Sitzpolster. »Ja, schätze schon.«
Während Ani still dasaß und aß, erfreute Rae sich an dem Anschein von Normalität. Wenn Ani begriff, dass Rae keineswegs ein Produkt ihrer Phantasie war, würde sie aufhören zu sprechen. Aber da Rae Ani
Weitere Kostenlose Bücher