Sommerlicht Bd. 4 Zwischen Schatten und Licht
vorzustellen und die Landschaft wieder so aufzubauen, wie sie vor dem Traum gewesen war. Die Leere in diesem Traum war beunruhigend, zumal die Träumende diejenige war, die das Elfenreich errichtet hatte und in Stand hielt.
»Nein. Das brauche ich alles nicht.« Sorcha wedelte mit der Hand durch die Luft und wischte alles weg, noch bevor es ganz wieder aufgebaut war. Es war ihr Traum, also war so ein Wandel möglich – vielleicht umso mehr, als die Königin des Lichts etwas vom Erschaffen neuer Welten verstand.
Was bedeutet es für das Elfenreich, wenn sie nicht über den Spiegel in ihrem Traum hinausschauen kann?
Rae stand nutzlos in dem Traumzimmer; nicht ganz in dem Nichts jenseits davon, doch nah genug am Abgrund, dass sie dem Drang, an dieser Stelle etwas Neues zu gestalten, nur mühsam widerstehen konnte. Es war eine leere Fläche, in der es weder jemandes Wünsche oder Ängste noch sonstige Spuren zu verändern gab. So muss das Elfenreich vor Sorcha ausgesehen haben. Die Königin des Lichts bekam von den Dingen um sie herum nichts mit. Sie hatte nur Augen für das Bild ihres Sohnes in der Welt der Sterblichen. Sie wandte den Blick kein zweites Mal vom Spiegel ab. »Lass mich allein.«
»Vielleicht möchtest du ja mal wieder aufwachen«, begann Rae. »Die Welt fällt auseinander …«
»Ich werde aufwachen, wenn mein Sohn zurückkommt.« Die Königin wedelte wieder mit der Hand durch die Luft. Plötzlich standen drei geflügelte, löwenähnliche Kreaturen aus Mondlicht und Blitzen zwischen ihnen. Sie bewachten die Königin und hielten Rae auf Abstand. Die Blitze zuckten durch das Innere der durchsichtigen Körper. Als ein Tier sein Maul aufriss, flogen Funken heraus. Es kam nicht näher, aber es behielt Rae genau im Auge. Das zweite Wesen legte sich neben Sorcha auf den Boden, breitete seine Flügel weit auseinander und verdeckte so sowohl die Königin des Lichts als auch den Spiegel. Das dritte setzte sich knurrend hin.
Rae war sich nicht sicher, was passieren würde, sollte sie von ihnen gebissen werden, aber sie war auch nicht darauf erpicht, es herauszufinden. Sie deutete einen Knicks an, drehte sich um und trat aus Sorchas Traum in die verfallende Welt des Elfenreichs zurück.
Sie muss aufwachen.
Rae hatte Sorcha das Fenster zur Welt der Sterblichen geschenkt. Doch die Königin des Lichts war die Verkörperung der Logik: Sie hätte nicht derart fasziniert von dieser Besonderheit sein dürfen. Irgendetwas war nicht in Ordnung, und Rae hatte keine Ahnung, was der Grund dafür war.
Ich muss Devlin erreichen.
Er hatte Rae natürlich noch nicht mal erzählt, dass er einen Neffen besaß. Die Königin des Lichts hatte einen Sohn, der in der Welt der Sterblichen lebte. Das erklärte Devlins häufige Besuche dort, aber nicht, warum die Königin der Ordnung sich so irrational verhielt.
Irgendetwas stimmt hier nicht.
Rae schwebte schweigend durch den Thronsaal und hielt dann an.
Eine der Sterblichen weinte.
»Was ist passiert?«, fragte Rae.
Die andere Sterbliche deutete auf eines der hohen Rundbogenfenster. Rae konnte sich ihm, so hell, wie der Himmel war, nicht nähern, doch selbst aus der Ferne sah sie, dass der Berg teilweise verschwunden war. Das Elfenreich verfiel, zerstörte sich nach und nach selbst. Da die Königin nur die Bilder in dem Spiegel wahrnahm, war die Landschaft des Reichs für sie nicht mehr real. Manche Elfen konnten sich an den Mangel an Logik nicht gewöhnen und folgten ihr, zogen sich in ihre eigenen Träume zurück. Die echten Elfen vom Hof des Lichts sind ohne sie verloren. In merkwürdigen Haltungen lagen sie draußen auf der Straße, genau wo sie an Ort und Stelle in den Schlaf gefallen waren. Das Elfenreich versank in einem tiefen Schlummer.
Die weinende Sterbliche lüftete ihren Schleier und sah Rae an. »Das Ende der Welt ist gekommen.«
Hinter Rae lag die Königin des Lichts und schlief. Sie trug ein Lächeln auf den Lippen und wirkte friedlicher als sonst im wachen oder träumenden Zustand.
»Geh zurück.« Die Sterbliche sank zu Boden und sah mit tränennassem Gesicht zu Rae auf. »Rede mit ihr. Sie muss aufwachen.«
Und Rae hatte keine andere Wahl. Die Elfen außerhalb des Palastes waren offenkundig krank oder schliefen. Im Palast gab es nur noch wenige, die wach waren. Rae spürte die Ranken ihrer Träume wie geflüsterte Mahnungen. Zum ersten Mal seit ihrem Eintritt ins Elfenreich gab es überall um sie herum Träumende!
Rae schlüpfte zurück in Sorchas
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