Sommerlicht Bd. 5 Aus dunkler Gnade
dadrinnen … ich war so wütend.«
Leslie streichelte seine Wange. »Es geht dir schlecht, und Irial ist tot. Glaubst du im Ernst, dass mir irgendetwas anderes wichtig ist?«
Einen Arm um Leslie gelegt, griff Niall mit der verletzten Hand nach der Kette und zog daran. Seths Käfig erhob sich wieder in die Luft. Als er unter den Dachsparren baumelte, befestigte Niall die Kette an dem Eisenstab.
Dann verschwanden er und Leslie ohne ein weiteres Wort und ließen Seth allein im Dunkeln zurück.
Leider blieb er nicht lange allein. Einige Stunden später wurde er von krächzendem Gelächter geweckt.
Bananach lief durch die leere Lagerhalle; hinter ihr eine ganze Parade von Elfen, die Seth teils kannte, teils nicht.
Vom Regen in die Traufe. Seth beobachtete, wie die verrückte Rabenelfe in der Domäne des Königs der Finsternis herumstolzierte. Da sie über und über mit Blut befleckt war, wusste Seth, dass noch jemand tot oder schwer verletzt sein musste. Fragen oder warten? Er kannte Bananach nicht gut genug, um einschätzen zu können, was besser war.
In aller Seelenruhe schritt sie durch die Halle zum Thron des Königs der Finsternis.
Als Seth aufstand und die Gitterstäbe seines Käfigs umklammerte, schaute die Rabenelfe zu ihm hoch.
»Sieh mal an, kleines Lamm. Das ist aber eine nette Überraschung.« Sie breitete ihre Flügel weit aus, stieg auf und schwebte vor dem Käfig in der Luft. Seth sah, dass eine ihrer Schwingen stark verletzt war. Nach den Gesetzen der Logik hätte sie damit eigentlich gar nicht fliegen können dürfen, aber er nahm nicht an, dass Bananach sich von Schmerzen beeindrucken ließ.
»Seht mal, meine Lieben. Der alte König hat mir ein Krönungsgeschenk hinterlassen.«
Seth fragte sich, ob sie Emotionen schmecken konnte wie Niall. Weiß sie, dass ich Angst habe? Er hoffte, nicht, und sagte möglichst ruhig: »Der König der Finsternis …«
»Ist nicht mehr da.« Sie glitt zu Boden und stellte sich vor den Thron.
Hat sie Niall getötet? Angesichts des Blutes und ihrer Worte war Seth sich nicht sicher. Er versuchte, Nialls Fäden zu sehen, doch da war nur Dunkelheit. Was noch nichts beweist.
Die versammelten Elfen verstummten, als Bananach vor den leeren Thron trat. Sie schienen kollektiv den Atem anzuhalten, während sie auf das Podest stieg und ihre Hand auf die Armlehne des Stuhls legte.
Sie drehte sich um, ließ ihren Blick über die gebannte Menge schweifen und setzte sich auf den Thron des Königs der Finsternis. Dann schloss sie für eine Weile die Augen und schwieg. Schließlich flogen ihre Augen wieder auf. »Ich bin die Königin der Finsternis. Dies ist mein Thron, mein Hof, und du« – sie bedachte Seth mit einem bösen Blick – »bist mein Gefangener.«
Seths Augen weiteten sich. »Du kannst dich nicht einfach so zur Königin erklären. Es gibt Regeln, spezielle Verfahren und …«
»Die sind für Untertanen. Aber ich, mein süßes Lämmlein, bin niemandes Untertan mehr. Wenn jemand zum Herrschen bestimmt ist, kann er sich die Macht nehmen, und ich bin dazu bestimmt, Königin zu sein. Ich bin die Königin der Finsternis.« Dann erhob sie ihre Stimme: »Meine Untertanen? Kommt her.«
Noch mehr Elfen strömten herbei. Elfen, die eigentlich zum Sommer- oder Winterhof gehören sollten, gesellten sich zu den Ly Ergs, außerdem einige Distelelfen und ungebundene Elfen, die Seth aus der Stadt kannte. Sie alle drängten mit irre grinsenden Gesichtern und blutigen Händen in die Lagerhalle.
Bananach saß auf dem Thron des Königs der Finsternis und nahm eine königliche Haltung ein. »Kommt, meine Überläufer, und schwört mir die Treue.«
Und zu Seths großem Schrecken taten sie es wirklich. Einer nach dem anderen kniete sich vor sie und neigte das Haupt. Sie widerriefen die Eide, die sie Niall gegenüber geleistet hatten, nannten Bananach »meine Herrin« und boten ihr ihre Dienste an.
Wenigstens lebt er noch …
Seth hatte Niall zweimal gegen Bananach kämpfen sehen, und er bezweifelte, dass irgendjemand sonst dazu fähig war – vor allem, wenn Bananach den Hof der Finsternis unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Doch der aus dem Gleichgewicht geratene König war momentan nicht in der Verfassung, einen Kampf zu führen, gegen wen auch immer.
Ich will nicht Nialls Gegengewicht sein.
Außer ihm gab es auf dieser Seite des Schleiers keine andere Elfe vom Hof des Lichts mehr.
Wenn jemand zum Herrschen bestimmt ist, kann er sich die Macht nehmen. Seth
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