Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
liest die Sätze noch einmal, der Ton klingt so relaxed, weltgewandt; er ist ja auch schon zweimal im Ausland gewesen, einmal in Dublin und später auf einer Urlaubsreise in ein »Sonnenland«, da fliegt man überhaupt nicht in ein bestimmtes Land, sondern zu einem Strand und einem Hotel – stinklangweilig; die Sonne knallte unerträglich, und das Gequatsche der Reisegenossen war noch weniger auszuhalten. Jawohl, schon zweimal, beide Male in einer Gruppe mit Leuten aus der Gegend, jetzt aber ist er ganz allein auf Reisen, und das ist gut so, obwohl, den Hund vermisst er schon. Nächster Satz: In London gibt es die Tower Bridge und das berühmte Parlament und noch viel mehr, genug zu sehen. Punkt. Die Karte ist zur Hälfte beschrieben. Noch eine Dreiviertelstunde bis zum Abflug, das Glas Bier leer, was kann man noch schreiben, und noch mal: Warum schreibt er die Karte überhaupt? Was soll das, welches Recht hat er, ihr eine Karte zu schreiben? Erhebt er damit nicht irgendwelche Ansprüche? Da fällt ihm Agusta ein, er überprüft, was er geschrieben hat, lässt sich daraus etwas schließen? Genug womöglich, damit Agusta etwas zu tratschen hat, wie sie es in ähnlichen Fällen schon getan hat, sozusagen im Vorübergehen irgendwo etwas fallen lassen, aber so, als hätte sie nie etwas gesagt. Man wusste auf einmal Bescheid, hatte aber keine Ahnung, woher. Nein, dem, was er geschrieben hatte, ließ sich nichts entnehmen – wohl aber allein der Tatsache, dass er, Benedikt, ihr, fmriöur, überhaupt schrieb. Er flucht leise, beugt sich über den Tisch, stützt die Stirn in die Hand, diese Gedanken bringen ihn ins Schwitzen, und es ist nur noch wenig Zeit bis zum Abflug, also schreibt er, ohne groß nachzudenken, ja, eigentlich ohne überhaupt nachzudenken: Ich bleibe bis Sonntag. Kannst du das Satiremagazin im Fernsehen für mich aufnehmen? Ui, jetzt hat er es vermurkst, wie dämlich! Erstens sieht das so aus, als ob er nicht weiterleben könne, wenn er einmal Spaugstofan verpasst, und zum anderen lässt er damit durchblicken, dass zwischen ihnen etwas läuft. Was natürlich Blödsinn ist, er hat weder ein Recht dazu noch ein Interesse daran, so was zu unterstellen, es war einfach nur blöd von ihm, und das Flugzeug geht in einer halben Stunde. Irgendwie muss er das hinkriegen, das Allerbeste wäre natürlich, auch diese Karte zu zerreißen, es wäre das einzig Gescheite, aber er tut es nicht, weil er nun mal ein Idiot ist, das, was man angefangen hat, muss man auch zu Ende bringen. So ist es einfach. Also schnell jetzt, retten, was zu retten ist, irgendwas Schlaues, Geistreiches, keine Ausrufungszeichen, nur Punkte: Es ist gut, einmal rauszukommen. Island kann so beschränkt sein. Oder soll er einengend schreiben, nein, klingt gut so, richtig gut. Benedikt blickt zufrieden um sich, sehr zufrieden. Teufel auch, da hat er richtig was geleistet, jetzt können die zuhause mal sehen, dass er kein Einsiedler ist, der sich vor der Welt draußen in die Hose macht. Noch zwanzig Minuten bis zum Abflug. Zwanzig Minuten! Benedikt springt auf, schnappt sich die Einkaufstüte und die Karte, legt sie zurück auf den Tisch, kritzelt hastig ihre Adresse unter ihren Namen, der mit sorgfältigen Buchstaben geschrieben ist, sauber ausgerichtet stehen sie da, die Buchstaben bei der Anschrift dagegen taumeln wie ein Haufen hyperaktiver Psychopathen, und nicht zwei von ihnen neigen sich in die gleiche Richtung, aber jetzt fehlt noch ein Abschiedsgruß in Teufels Namen. Jæja, schreibt er, Komma, er hat schon Schluckauf vor Stress, ihm fällt nichts mehr ein, er setzt nur noch den Namen darunter, vollkommen unleserlich in der Eile, jetzt weiß kein Schwein, wer die Karte geschickt hat, super! Damit ist alles versaut. Er rennt quer durch die Halle, rempelt am Postschalter drei Japaner zur Seite, schmettert die Karte auf den Schalter, stammelt irgendwas Zusammenhangloses, streut Kleingeld auf die Theke und sprintet wieder los, erreicht gerade noch die Maschine, völlig verschwitzt und mit pochendem Herzen; kurz danach: blauer Himmel.
In London leben viele Menschen, beträchtlich mehr als bei uns im Ort, und die Häuser sind höher, manche von ihnen habe eine eigene Geschichte. Wir haben ein Heimatmuseum mit einem Traktor von 1936, altem Werkzeug von 1920, einer hundert Jahre alten Pfeife und lauter solchen Dingen, aber in London kann man die Weltgeschichte studieren, eine viertausend Jahre alte Mumie aus Ägypten, viele Jahrhunderte lang wurde
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