Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
von hier aus die Welt regiert, wo sich jetzt eine der bedeutendsten Einkaufsstraßen weltweit befindet, haben einmal die Römer eine Straße gebaut, es gibt so viele verschiedene Straßen, dass man Bücher schreiben könnte, um nur einen Tag wiederzugeben. Benedikt sitzt in einem Pub und hält ein Bierglas in der Hand, er sieht die Menschen draußen vorbeiströmen, den breiten Fluss des Lebens, und denkt über die Größe der Stadt, die Geschichte und die Mumie nach; er trinkt sein Bier und ist fix und fertig angesichts die Tatsache, dass all das, die Mumie, die Geschichte, die Menschenmengen, absolut nichts bedeuten im Vergleich zu einer einzigen Frau in einem winzigen Ort in einem Land, das weitab von allem liegt, aber ganz nah an ewigem Winter und lastender Dunkelheit, in einem Land, das völlig unbewohnbar wäre, wenn es nicht von diesem warmen Meeresstrom umflossen würde. Benedikt denkt kurz an diese Meeresströmung, den Golfstrom, und bekommt einen Kloß im Hals aus lauter Dankbarkeit ihm gegenüber, denn wo wäre fmriöur, wenn wir den Golfstrom nicht hätten? Was für eine armselige Welt wäre das, wenn es sie nicht gäbe, was sollten wir dann mit Mumien, Geschichte, Menschenmengen und blauem Himmel anfangen? Würde dieser Tony Blair zum Beispiel weiter so breit grinsen, oder würde er sich nicht einfach in sein Bett packen? Benedikt schreibt eine Ansichtskarte, sein Herz klopft, und er schreibt: Ohne dich würden die ägyptischen Mumien ihren Sinn verlieren. Er streckt den Rücken, liest den Satz, muss das eine Auge dabei zumachen, um durch den Biernebel einigermaßen klar zu sehen, und setzt hinzu: Aber zum Glück haben wir den Golfstrom, sonst gäbe es dich nicht, und Blair würde nie wieder grinsen, dein Benedikt. Dann streicht er das »dein« sorgfältig wieder durch. Man braucht schon mehr als sechs Bier, um »dein« zu schreiben, »dein« erfordert mindestens zehn Bier, ja, »dein« ist ein Zehn-Bier-Wort. Benedikt guckt den Mann am Nachbartisch an, die Tische stehen hier sehr dicht beieinander, so ist das in Weltstädten, da gibt es so viele Menschen, und irgendwo müssen die ja alle Platz finden. Der Mann ist ein dicklicher kleiner Araber in einem piekfeinen Anzug, wahrscheinlich aus Seide, und Benedikt sagt zu ihm: Letzten Endes braucht man nicht viele Worte zu machen, worauf es ankommt, ist, die richtigen Worte zu finden, genau wie beim Schafabtrieb, wo die Anfänger permanent in sämtliche Richtungen rennen anstatt weniger, aber an die richtigen Stellen zu gehen. Er versucht, Englisch zu sprechen, aber das Isländisch bricht immer wieder durch und schiebt die englischen Wörter beiseite, trotzdem nickt der Araber zustimmend und antwortet in einer Mischung aus Englisch und Arabisch, worauf Benedikt seinen Stuhl ganz zu ihm hinüberschiebt und sagt: Sie heißt turiöur. What?, macht der Araber, und Benedikt wiederholt: She is Thuriöur, und erklärt dann, wie groß sie ist, was sie für Augen hat, dass sie Lederstiefel trägt, und dass sie dieses innere Leuchten hat. Der Araber guckt Benedikt an, hört zu und holt schließlich das Bild einer arabischen Frau hervor. Benedikt blickt ihn an und nickt. So geht der Tag herum und der Abend auch. Gegen Mitternacht fällt Benedikt dem Araber in die Arme, beide heulen fast, dass sie sich trennen müssen, sie tauschen ihre Adressen aus, der Araber schenkt ihm seine Krawatte. Am folgenden Tag kommt wieder der blaue Himmel.
Fünf
Vierundzwanzig Stunden, nachdem er in einem Londoner Pub nicht weit von einer ägyptischen Mumie, einem Relikt des Lebens vor 4000 Jahren, gesessen hatte, stand Benedikt wieder auf dem heimischen Hofplatz, der Hund dicht neben ihm ließ vor lauter Glück die Zunge hängen, und es war nichts um sie herum als Luft. Benedikt hätte endlos laufen können, ohne auf etwas anderes zu stoßen als Luft, in London dagegen konnte er kaum den Arm ausstrecken, ohne einen anderen Menschen zu berühren, manchmal war das Gedränge so dicht, dass man sich kaum umdrehen konnte. Ob in den dichtbefahrensten Straßen überhaupt genügend Sauerstoff vorhanden war? Jedenfalls hatte ich manchmal echt Probleme, Luft zu kriegen, sagte er zum Hund, der zu ihm aufsah und alles verstand. Benedikt grinste und dachte an die Postkarten, die er aufgegeben hatte, er und der Araber, mindestens drei Stück waren es, auf einer hatte er den Golfstrom und die Mumie erwähnt, aber er konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was auf den anderen stand. Bald würden
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