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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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irgendetwas anderes. Benedikt hält an seinem Zorn fest, bemüht sich aber, seiner Stimme den scharfen Klang zu nehmen: Ich vertrage kein Mitleid, ich hasse Mitleid, und wahrscheinlich ist es am besten, wenn du jetzt gehst, und nimm deine Tasche mit, sie steht gleich hinter der Haustür. Damit bückt er sich nach dem Stemmeisen, als wollte er seine Worte noch unterstreichen, was hat er sonst auch mit dem verdammten Brecheisen zu tun, okay, hält er es eben in der Hand, bis sie endlich weg ist. Aber sie macht gar keine Anstalten zu gehen, steht noch immer da, groß, kräftig und mit jungenhaft kurz geschnittenen Haaren, er fühlt ihre Anwesenheit wie einen leichten Druck auf seiner Haut, er guckt auf das Stemmeisen.
    Vielleicht komme ich aus Mitleid mit mir selbst, sagt sie und ist vollkommen ruhig. Wenn er doch bloß so reden könnte, mit so viel Überlegung. Schnell blickt er von der Eisenstange in ihr Gesicht, das Gesicht einer Frau anzusehen, fühlt sich bedeutend wärmer an als der Blick auf ein Stemmeisen. Er ist völlig überrascht, nicht von diesem Unterschied zwischen Frauengesicht und Eisenstange, sondern von dem, was sie gesagt hat. Er will sich mit der Hand in den Nacken greifen, das tut er oft, wenn er ratlos ist, erinnert sich dann aber an das Werkzeug in seiner Hand. Ich habe eigentlich keine Ahnung, was ich mit dem Ding hier will, sagt er in seiner Not.
    So verlief der dritte Besuch.
    Trotz des strömenden Regens und heftigen Winds gingen sie in aller Ruhe vom Stall zum Haus, sprachen nicht viel, Worte waren nicht leicht zu finden oder überflüssig, Benedikt war sich nicht ganz sicher, aber es gefiel ihm, an ihrer Seite zu gehen, und er hatte zugleich etwas Angst vor diesem Gefühl. Immerhin brachte er es fertig, sie zu fragen, warum sie bei ihrem ersten Besuch die kleine braune Reisetasche mitgebracht habe.
    Ich habe einen etwas seltsamen Humor, antwortete sie, und außerdem wollte ich etwas … Unvernünftiges tun, irgendwas völlig Unangebrachtes, denn ich dachte, manchmal ist es das Einzige, was man tun kann, sagte turiöur und verabschiedete sich urplötzlich, ohne weiter zu erklären, was sie damit meinte; es gab noch ein Lächeln im Regen, den schwarzen Jungenhaarschnitt, dann war sie weg. Da erst ging ihm auf, dass er vergessen hatte, ihr davon zu erzählen, dass er in gut zwei Wochen nach London fliegen wollte, aber er schüttelte den Kopf und sagte zu sich selbst, dem Regen oder dem Hund: Als ob sie das etwas anginge.
    Eine Woche verging, zwei, wie es eben so geht, die Zeit verstreicht und wir werden älter, oder wie es in einem Gedicht heißt: Die Tage kommen, die Tage gehen, und dann sterben wir. Bei uns klingt es nur nicht so dramatisch und poetisch. Die Tage kommen, die Tage gehen, und dann fliegt Benedikt nach London. Du wunderst dich vielleicht, wieso dieser alleinstehende Bauer, dieses großnäsige Stück Einsamkeit, nach London fährt, wozu, was ist mit den Schafen, was mit dem Hund? Verreisen solche Waldschrate eigentlich überhaupt einmal weiter als bis Reykjavik oder allerhöchstens nach Oslo? Nun ja, es schneit einem ja so manches mit der Post ins Haus, du kennst das. In Benedikts Gegend fährt Vigdis von Brüsastaöir die Post aus, sie ist eine von Agüstas Fußsoldaten, nein, falsch, sie der Infanterie zuzurechnen, denn Vigdis fährt die Post mit ihrem japanischen Geländewagen aus und hört dabei Autoradio. Wenn sie ganz langsam von Hof zu Hof rollt, hört sie eine Geschichte im Radio oder von Kassette und kaut dabei Opal blau, drei Päckchen täglich, um sich das Rauchen abzugewöhnen. In Benedikts Briefkasten hat sie die Broschüre eines Reisebüros eingeworfen, was natürlich nichts Neues ist, unsere Tage sind schließlich voll von Hochglanzprospekten mit den Sonnenstränden der Karibik, oder Großstädte plumpsen durch den Briefschlitz, liegen im Briefkasten, erinnern an die vielen Gesichter der Erde, so prangend bunt in unserem Alltag, und sie versprechen uns einen neuen Himmel für unsere Visakarte, all dem kann man auf Dauer kaum widerstehen. Zunächst beachtete Benedikt die Broschüre gar nicht, steckte sie ungelesen in den Zeitungsständer. Zwei Tage später aber tröpfelte die Zeit so dahin, schlurfte voran wie ein gebrechlicher Greis, der Himmel war auch schon grau und machte es bestimmt nicht mehr lange. Benedikt warf einen Blick auf die Küchenuhr und rechnete damit, dass sie stehenbleiben und nahtlos die Ewigkeit anbrechen würde. So würde sie wohl aussehen: Er

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