Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
allein am Küchentisch, keine Gesellschaft bis auf den Hund, und der pennte. Da fiel sein Blick auf den Katalog im Ständer zwischen den zerlesenen Ausgaben der Tageszeitung. »Metropolen der Welt« stand auf dem Umschlag, nach Aussage des Katalogs gab es zwölf von ihnen, Reykjavik wurde natürlich nicht erwähnt und unser Ort schon gar nicht, der ist ja auch keine Stadt, Reykjavik streng genommen auch nicht. Er blätterte von Stadt zu Stadt, blieb bei London hängen, warum auch immer, an Fußball hatte er jedenfalls kein Interesse, was sonst ja eine gute Erklärung gewesen wäre. Er beugte sich über den Tisch, betrachtete zwei Aufnahmen von Straßenszenen, die eine aus der Oxford Street, die andere von einem Markt, und darauf hielt eine Frau oder ein Mädchen eine Frucht in der Hand, wahrscheinlich eine Pflaume, murmelte Benedikt, nachdem er das Vergrößerungsglas geholt hatte. Sie war vielleicht um die fünfundzwanzig, kaum viel älter, blond, mit einem netten Pferdeschwanz und sicher witzig. Sie trug ein weißes T-Shirt, abgeschnittene Jeans und Sandalen an den nackten Füßen, kleine Knie »wie Küsse«, ein nachdenkliches Gesicht, hübsche Schultern – sie sah aus, als würde sie auf jemanden warten, vielleicht auf mich, murmelte er über dem Küchentisch. Benedikt sah sich diese Frau oder dieses Mädchen einige Tage lang an, mit oder ohne Lupe, dann buchte er telefonisch eine Fünftagesreise, von Dienstag bis Sonntag.
Vier
Um drei Uhr nachts fährt er los, eine Nacht im Juni, und der Regen das Einzige, was schon wach ist. Der Hund steht auf dem Hof und blickt dem Auto nach, ein Ohr lässt er hängen, begreift nicht, weshalb er nicht mitkommen darf. Benedikt guckt in den Rückspiegel. Bestimmt fährt man nicht mit Hund nach London, auch wenn es ihm vielleicht Spaß machen würde; zwei braune Hundeaugen von einem isländischen Bauernhof mitten in London. Benedikt hat ihm genügend Fressen in den Napf getan und Wasser in die Schüssel. Heimir und Gusta, die Nachbarn vom nächsten Hof, wollen nach ihm sehen. Benedikt fährt durch die schlafende Landschaft, die Scheibenwischer verrichten ihre Arbeit, ohne dass Benedikt darauf achtet. Er fährt durch den Ort, wir liegen alle noch im Tiefschlaf, Träume über den Hausdächern. Benedikt nimmt nicht den direkten Weg, sondern biegt zum Altersheim ab und rollt ganz langsam an fmriöurs Haus vorbei, dabei sagt er laut: Ich fahre jetzt nach London, dann gibt er Vollgas und ist schon fast auf hundert, als er am Haus des Astronomen vorbeikommt, der vielleicht noch wach ist, obwohl vor Regentropfen und Helligkeit keine Sterne zu sehen sind.
Benedikt hat gut zwei Stunden Zeit im Duty-free-Bereich, bummelt von Shop zu Shop, kauft etwas aufs Geratewohl, in erster Linie, um etwas zu tun zu haben, lässt sich irgendwo nieder, um ein Sandwich zu essen, trinkt ein Bier, zieht eine Ansichtskarte aus der Tüte, blickt eine Weile aus dem Fenster über die flache, vegetationsarme Landschaft, nass unter Regenschleiern, die der Wind zerfetzt, dann kramt er noch einmal in der Tüte, findet einen Stift und schreibt: Hier sitzt man nun. Punkt. Lange guckt er auf diese vier Wörter, diese dümmlichen Worte. Natürlich sitzt man irgendwo, wenn man eine Karte schreibt, warum das also eigens erwähnen? Hier atmet man, setzt er selbstironisch hinzu. Punkt. Er zerreißt die Karte. Kartenschreiben ist bescheuert! Wozu und an wen? Er lehnt sich zurück, trinkt einen Schluck Bier, steht auf und kauft eine neue Karte – man ist eben nicht immer Herr seiner eigenen Entschlüsse. Er setzt sich wieder, denkt lange nach und guckt über die unbewohnbare Gegend, schreibt dann: Ich bin auf dem Weg nach London, überlegt wieder gründlich und entscheidet sich dann für ein Ausrufezeichen dahinter, was er sogleich bereut, denn dadurch bekommt der Satz etwas Schisseriges, als sei es etwas ganz Besonderes, dahin zu reisen, wohin zigtausend Isländer jedes Jahr fahren. Er schnaubt, steht auf und besorgt sich schnell eine neue Karte, setzt ihren Namen darauf und schreibt weiter: Da ist man also auf dem Weg nach London. Punkt, kein Ausrufezeichen. Als Nächstes fehlt ein Grund. Er schreibt: Die Welt ist groß. Punkt, den er nach sorgfältigem Abwägen in ein Komma verwandelt: Und natürlich sollte man sich ein Stück davon ansehen. Das ist gut. Er lehnt sich zufrieden zurück, nimmt einen tiefen Schluck Bier, den hat er sich verdient, er merkt auch schon ein ganz klein wenig was, das macht aber nichts. Er
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