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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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Sowjetunion und
Samband,
die Mutter aller Genossenschaften, wären ewig. Die Genossenschaft war der Mittelpunkt der Welt, sie betrieb einen Laden,
Lagerinn
, die Tankstelle mit Shop und den Schlachthof, die Bauern leisteten ihre Einlagen und entnahmen dafür Lebensmittel, Kraftfutter, Diesel, Zaundraht, Weihnachtsgeschenke und Ostereier, Bargeld bekam man nie in die Finger, außer man musste in die Stadt zum Zahnarzt. Es war die Ära der Stagnation, grauenhafte, nasskalte Flaute, und hinter allem stand die Fortschrittspartei, unser Anfang und Ende, wir glaubten, es würde sich nie etwas ändern, und damit lagen wir genau falsch. Seltsam, wie am Ende doch alles anders wird, der Eiserne Vorhang, Schwarzweißfernsehen, Schreibmaschinen – wann hört diese Entwicklung einmal auf? Du brauchst nicht zu antworten, wir denken nur laut vor uns hin, denn inzwischen verändert sich alles so rasend schnell, dass der, der nur mit den Augen zwinkert, schon den Anschluss verloren hat. Aber erst als
Samband
in sich zusammenbrach, innerlich morsch wie die Vereinigten Staaten in unseren Tagen, ekelerregender Modergeruch weht mit dem dauernden Westwind zu uns herüber, erst da spürten wir die dominierende Macht der Genossenschaft. Die schwersten Ketten spürt man erst, wenn sie von einem abfalle.
    Doch hier im Ort lebt jemand, den der Lauf der Zeiten oder wie sich alles verändert, nicht die Bohne interessiert. Jónas heißt er und hat dem Astronomen das Wellblechhaus gestrichen. Mit seinen Malerpinseln kann Jónas die Welt verändern, ein Wellblechhaus hat er in den Nachthimmel verwandelt.

Tränen sind geformt wie Ruderboote
    Jónas ist schmal und schmächtig, kaum mittelgroß und zerbrechlich; bloß nicht zu fest auftreten, sonst zerbröselt er. Jónas ist so langsam und leise groß geworden, dass wir ihn über lange Zeiträume glattweg vergessen haben, nie sprach er unaufgefordert und antwortete dann meist in Einwortsätzen mit einer Stimme, dünn wie ein Wollfädchen, früh klang sie eine Spur tiefer, brach aber leicht. Auch die Schule fiel ihm nicht leicht, die Lehrer beachteten ihn kaum, geschweige denn, dass sie ihn an die Tafel gerufen hätten, vor Prüfungen schlief er schon Wochen im Vorhinein schlecht, erbrach sich bei Klassenarbeiten zweimal über den Tisch und wurde einmal sogar ohnmächtig. Jónas hatte keine Freunde, aber auch keine Feinde, die anderen Kinder ärgerten ihn fast nie, vielleicht weil Hannes, sein Vater, ein Hüne von Mann und unser Dorfsheriff war, noch mehr aber wohl deswegen, weil er selbst etwas so Zurückgezogenes an sich hatte, dass selbst Kinder in seiner Gegenwart behutsamer wurden. Und die Jahre vergingen. Jónas stand an der Schulmauer, sah zu, wie sich die anderen Schüler zankten, das war noch in den siebziger, achtziger Jahren, und beguckte seine Hände, die durchscheinend dünn waren.
    Mit vierzehn ging er von der Schule ab.
    Zu der Zeit schossen seine Mitschüler noch in die Höhe, aber Jónas wuchs nicht mehr. An den Mädchen kamen Brüste zum Vorschein, weiche Rundungen an den Hüften, die erste sexuelle Gier wurde in den Jungen wach, sie entwickelten sich zu einer brüllenden Horde von Jungbullen, trommelten gegen Wände und röhrten zum Himmel auf, etwas wurde hart und steif in der Hose, wenn ein Mädchen nur hustete. Jónas schien von solchen Anwandlungen verschont zu bleiben, er drückte sich nur noch fester an die Wand des Schulgebäudes und kam irgendwann nicht mehr zum Unterricht, sondern schloss sich in seinem Zimmer ein. Hannes musste die Tür aufbrechen, er drohte, schimpfte, versuchte es im Guten und bettelte, aber der Sohn kehrte nie wieder in die Schule zurück. Der Junge ist schwachsinnig, behaupteten einige. Hannes redete mit dem Betriebsleiter der Molkerei, sie waren alte Freunde, und eines Morgens im Februar, Punkt neun, trat Jónas zur Arbeit an. Nimm den Wischmopp, sagte der Betriebsleiter, und viel komplizierter wurde die Einweisung nicht. Da gingen die achtziger Jahre zu Ende, es dauerte nicht mehr lange, bis die Berliner Mauer zusammenbrach und ihre Reste als Souvenirs verkauft wurden, der Mensch verfügt doch über beachtliche Fähigkeiten, Bedrohungen, Tod und Verzweiflung in knallharte Währung umzumünzen.
    Jónas hatte immer eine unvergleichlich helle Haut besessen, wie eine Glühbirne im Dunkeln. Stell dich her zu mir, damit ich lesen kann, sagte sein Vater zu ihm, wenn an Winterabenden in jenen Jahren, in denen es noch Wetter gab und alle Ortschaften unter

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