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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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in sein linkes Ohr, und dann existierte nichts mehr in der Welt als ihre Atemzüge.
    Erinnerungen verschleißen nicht durch häufigen Gebrauch wie Kleidung. Davið hatte in den vergangenen sechzehn Tagen fast ununterbrochen daran zurückgedacht, und der Effekt war immer der gleiche: er wurde sentimental und bekam einen Mordsständer. Für Letzteres schämte er sich manchmal und versuchte sich dann auf ihre Augen zu konzentrieren, dunkel waren sie, oder auf den warmen Geruch, der von ihrer Kopfhaut ausgegangen war, oder auf ihr Gesicht, wenn sie sich im Laden begegneten. Verlegenheit lag in diesem Lächeln, aber auch etwas Herausforderndes, Lockendes, Wärme, Innigkeit. Aber wenn das nicht half, ging er ein wenig abseits, um mit sich und seinen heißen Erinnerungen allein zu sein. Daher stand er gerade hinter dem alten Ford-Traktor, als Kjartan um die Ecke bog. Ich muss gerade mal pinkeln, hinter dem Ford, rief Davið, näherte sich dem Abschluss und brach dann aber ab, als er seinen alten Kumpel erblickte, denn es gibt Dinge auf der Welt, die möchte man am liebsten allein zu Ende bringen.
    Bis nach Mittag saßen sie bei der Kaffeemaschine, sprachen wenig, Kjartan hatte seine Tagesverpflegung schon um zehn aufgegessen, Daviðs Pausenbrote verputzte er bis halb zwölf und fühlte sich noch immer hungrig. Davið versuchte, ein wenig auf dem Stuhl zu schlafen, denn wer schläft, weiß nichts von seiner Umgebung, entkommt den Fesseln der Zeit, kann fliegen, kann sterben, kann Dinge tun, die ihm das Gewissen in wachem Zustand zu tun verbietet. Glücklicherweise kamen keine Kunden, dichte Bewölkung, leichtes Schneetreiben draußen, um null Grad, Januar. Es gibt Tage, da scheint so ein Januarmorgen sich die Zeit damit zu vertreiben, Henkersschlingen zu knüpfen, und dann bleibt man am besten zu Hause, geht nirgends hin, duckt sich und hofft, dass die Welt einen übersieht. Kjartan knackte Zuckerstücke, es knirschte zwischen seinen Zähnen, er stieß einen Fluch aus, und Davið schreckte aus einem flachen, traumlosen Schlaf hoch. Damit löst du auch nichts, sagte Kjartan, als er den ersten geöffneten Spalt in den Augen seines Freundes entdeckte. Nein, stimmte Davið zu. Also standen sie auf, holten eine lange Leiter, deren Länge sich durch Aufklappen noch verdoppeln ließ, und marschierten Richtung Lagerhalle. Vor der großen Schiebetür zögerten sie, atmeten tief durch und stürzten sich ins Dunkel. Es war etwa ein Uhr. Sie rückten ein paar Meter vor, sahen erst nicht die Hand vor Augen und warteten, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnten, dann stellten sie die Leiter auf; das Licht aus dem Laden vorn schien weit entfernt wie ein schwacher Widerschein aus einer anderen Welt. Bist du sicher, dass wir direkt unter einer Lampenfassung stehen, fragte Davið. Wann kann man schon sicher sein, gab Kjartan zurück und zog eine neue Glühbirne aus der Tasche. Wer von uns beiden klettert rauf? Wappen oder Fische, fragte Davið und hielt eine Zehnkronenmünze hoch. Fische, sagte Kjartan. Davið schüttelte die Münze schnell zwischen den Händen und patschte sie dann auf einen Handrücken. Sony, mein Freund, sagte er, nachdem er sich darübergebeugt hatte, aber ich halte dir die Leiter. Ich habe Höhenangst, flüsterte Kjartan, begann aber doch in die Dunkelheit hineinzuklettern, die mit jeder Sprosse dichter zu werden schien. Besser, die Augen zu schließen, damit das Dunkle nicht über die Sehnerven einsickern und jeden Gedanken und alles Denken ausfüllen konnte. Halt die Leiter fest, du blöder Hund, rief er nach unten. Versuch ich doch, kam es von Davið zurück. Versuchen? Was willst du damit sagen, rief Kjartan und öffnete die Augen, sah nichts, aber die Leiter schwankte. Kjartan, ich höre irgendwas, rief Davið mit angstrasselnder Stimme. Kjartan fluchte, tastete sich die Leiter hinab und folgte Davið aus der Halle. Am Frühstückstisch ließen sie sich fallen, und Kjartan schimpfte über Daviðs durchgegangene Nerven, als langsam das silberfarbene obere Ende der Leiter aus der Dunkelheit auftauchte, für einige Sekunden stillzustehen schien und dann mit der Geschwindigkeit, die das Gravitationsgesetz vorschrieb, umfiel. Als sie auf dem Boden aufschepperte, zuckten die beiden zusammen. Dafür gibt es eine natürliche Erklärung, sagte Kjartan.
    Der Tag verstrich, um fünf Uhr gingen sie nach Hause.

Vier
    Am Morgen danach holte Davið Kjartan zuhause ab, wartete dort, bis der den Kindern die Pausenbrote geschmiert,

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