Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman
den Frühstückstisch abgedeckt und Asdis einen Abschiedskuss gegeben hatte. Dann gingen sie, äußerst langsam.
Was glaubst du, was das ist, fragte Davið zum hundertsten Mal, und Kjartan schüttelte zum hundertsten Mal den Kopf.
Meinst du, es hat was mit den Ruinen zu tun?
Wieder schüttelte Kjartan den Kopf, stellte sich die Frau und den geheimnisvollen Reisenden zusammen vor, und die Frau hatte das Gesicht von Elisabet. Menschen sterben, und das war’s, sagte er schließlich.
Dann ist es etwas in unseren Köpfen.
Kjartan brummte.
Sollen wir Helga anrufen?
Ich bin doch nicht einer von diesen irren Nervenkranken, außerdem würde sie uns bloß empfehlen, Strandspaziergänge zu machen und aufs Meer zu glotzen.
Sie könnte uns aber doch eines ihrer Bücher leihen über, na ja, du weißt schon, Einbildungen, Halluzinationen und solchen Kram.
Sind die nicht alle auf Englisch geschrieben?
Wahrscheinlich.
Kannst du englische Bücher lesen?
Vielleicht nicht so was Wissenschaftliches, aber ich habe ein Wörterbuch.
In meinem Kopf ist nichts verkehrt, verdammt noch mal! Halluzinationen! Woher kennst du bloß solche Ausdrücke? Mach die verdammte Tür auf, sagte Kjartan, denn jetzt waren sie angekommen, obwohl sie so langsam gegangen waren, dass eine Schnecke ungeduldig geworden wäre. Wir wechseln jetzt die Glühbirnen aus, erledigen die Bestellungen und pfeifen auf Spuk oder Halluzinationen, sagte Kjartan und trat ein.
Ich nicht, murmelte Davið und folgte ihm widerstrebend.
Sie hatten am Vortag nicht den Mut aufgebracht, die große Schiebetür zur Halle zuzumachen, und Davið starrte in das Dunkel der Öffnung, während Kjartan erfolglos versuchte, Simmi anzurufen.
Wir sollten jemandem davon erzählen, meinte Davið, als Kjartan erst einmal aufgab.
Wovon?
Du weißt schon, die Säcke mit dem Kraftfutter, der Strom, vielleicht auch die Leiter, und dass wir beide etwas gespürt haben … ich weiß nicht, irgendwas.
Vielleicht erzählen, dass wir uns wegen ein paar durchgebrannter Glühbirnen kaum noch ins Lager trauen? Und zugeben, dass wir einen Sprung in der Schüssel haben?
Davið: Ich habe etwas wahrgenommen, und du hast etwas wahrgenommen, es hat uns, gelinde gesagt, ganz schön durcheinandergebracht, warum sollten wir das nicht jemandem mitteilen? Man muss zu seinen Ängsten stehen.
Kjartan: Wir machen uns lächerlich.
Davið: Hör mal …
Kjartan: Wir sagen kein Sterbenswörtchen, zu niemandem, kapiert? Höchstens über die Sache mit dem Strom.
Ich mach mich doch nicht zum Gespött. Mit all seinen Kilos sprang er auf die Füße und funkelte seinen Kumpel wütend an, der, den Kopf gegen die Wand gelehnt, auf seinem Stuhl kippelte und den Eingang ebenso wie die Lagertür im Auge hatte.
Ich habe schon immer Angst vor der Dunkelheit gehabt, bekannte Davið.
Kjartan schnaubte und stapfte los, Richtung Lagerhalle, Kopf voran und die Schultern hochgezogen, aber wenige Meter vor der Öffnung geriet er durch den dunklen Luftzug, der dort herausströmte, ins Stocken. Was ist nur mit meinen verfluchten Nerven los, dachte er wütend über sich selbst und über Davið, der seinen Kaffee schlürfte und dabei seinen Kollegen beobachtete und zuweilen einen beunruhigten Blick auf die Eingangstür warf. Etwas Schweres landete auf dem Dach der Halle, vermutlich ein Rabe, das war nichts Ungewöhnliches, aber Kjartan griff sich ans Herz, und Davið kippte sich brühheißen Kaffee auf den Oberschenkel. Scheißrabe, murrte Kjartan, als er sich wieder eingekriegt hatte, drehte sich um und ging ruhig und gelassen zu Davið zurück, wo er sich auf seinen Stuhl setzte.
Davið: Ich hab mich mit Kaffee begossen.
Hast du dich verbrannt?
Nur ein wenig, nicht weiter schlimm.
Kühl es trotzdem, ist sicherer.
Wahrscheinlich hast du recht, stimmte Davið zu, zog die Hose aus und marschierte in roten Unterhosen zur Toilette, feuchtete einen Lappen mit kaltem Wasser an und setzte sich, den Lappen auf den Schenkel gepresst, wieder an den Tisch.
Ich muss Simmi anrufen. Wie ich ihn kenne, dauert es wieder eine Ewigkeit, bis er mal Zeit hat, sagte Kjartan mehr zu sich selbst, schaute dann zu Davið hinüber und setzte hinzu: Ach, du Schande, hast du dürre Beine.
Eine halbe Stunde später erschien der erste Kunde des Tages.
Ein Bauer aus dem nördlichen Teil des Bezirks, ein langer, hagerer Schlaks mit dunklen Haaren und einem etwas vorspringenden Mund, umhüllt von dezentem Schafstallduft.
Stör ich euch, fragte er,
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