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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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schleppte Sibba Björgvin auf die Tanzfläche, es war Ball, Besäufnis und richtig was los, alles außer Rand und Band, die beiden legten los, und Agusta lief am Parkettrand auf und ab mit ihrem roten Lippenstift, der an ein Stoppschild erinnerte. Sie sah mit an, wie sich Sibba auf die Zehenspitzen stellte, Björgvin ihre rechte Handfläche in den Nacken legte und sein Gesicht zu sich herabzog, Lippen öffneten sich, Zungen begegneten sich, es wurde ein langer, intensiver Kuss, und Agusta schlich mit gebrochenem Herzen nachhause. Sibba und Björgvin heirateten, bekamen vier Kinder, Sibba ist nicht mehr schlank wie eine Schnur, sondern inzwischen so in die Breite gegangen, dass Björgvin sie kaum noch umfassen kann, was er auf eine gewisse Weise vielleicht niemals getan hat. Und jetzt erhob er sich, wie immer pikobello im blauen Nadelstreifenanzug mit roter Krawatte. Die Jahre haben ihm Würde verliehen. Er hat auch ganz schön zugelegt, als würde er einen Sack Zement vor dem Bauch tragen, die Haare sind früh grau geworden, wer früh ergraut, denkt viel und verantwortungsbewusst, doch jetzt stand er auf, sah sich schnell um und grüßte einige bekannte Gesichter. Wer von ihm ein Kopfnicken erhält, fühlt sich geehrt. Björgvin hakte die Daumen hinter die breiten grünen Hosenträger und zog sie ein wenig vor, schob die Daumen auf und ab und räusperte sich nicht, denn ein Mann von Björgvins Kaliber braucht sich nicht zu räuspern, der redet einfach los. Hintergrundrauschen, soso, sagte er. Hört sich dieses Rauschen vielleicht so ähnlich an wie das Klimpern unserer Münzzählmaschine in der Bank? Wir grinsten, lachten leise, Björgvin hat was drauf, und schon sahen wir die gigantisch große Zählmaschine der Himmel vor uns, die das Kleingeld der Toten abzählt, das sie auf der Bank der Ewigkeit einzahlen. Der Astronom behielt sein Lächeln, er und Björgvin kennen sich gut, und vor langer Zeit, als es noch die Strickerei gab, hatten sie oft miteinander zu tun, nicht selten auf wichtigen Konferenzen, Abende waren das, die Zigarren in Brand setzten und Cognac in dickbauchige Schwenker füllten. Es tut gut, Cognac zu trinken, wenn der Abend gegen die Fenster drängt, man stößt mit der Dunkelheit an. Das Problem war nur, dass Björgvin gern einen über den Durst trank und dann seine Zunge nicht mehr im Zaum halten konnte, sodass er ein wenig zu häufig auf die Frau seines Gegenübers zu sprechen kam, besonders über ihre Augen bekam er sich gar nicht mehr ein, was ja verständlich ist, zumal es in einem berühmten Roman heißt, »das Licht der Welt ist in deinen Augen, und das Dunkel auch«.
    Inzwischen war allerdings eine beträchtliche Reihe von Jahren vergangen, seit sie im dichten Zigarrenqualm beisammengesessen hatten, und nun sagte Björgvin, wobei er abwechselnd ins Publikum und hinauf zum Podium blickte: Nein, es gibt bestimmt eine andere Erklärung für dein kosmisches Hintergrundrauschen, obwohl es mir am ehesten so vorkommt, als hätten deine Wissenschaftler da oben das Summen des Nähklübchens Ewigkeit gemessen, aber Scherz beiseite, ich danke dir für deinen informativen Vortrag, man sollte wirklich öfter kommen und dir zuhören, um die eingestaubten grauen Zellen ein wenig zu lüften. Aber davon abgesehen würde mich einfach nur interessehalber deine Ansicht über, wie soll ich sagen, gewisse Vorgänge hier im Ort interessieren, obwohl Vorgänge nicht das richtige Wort ist, Gerüchte sagen wir besser. Bestimmt ganz haltlose Geschichten, von denen wir uns kirre machen lassen, aber trotzdem fände ich es interessant, eine wissenschaftlich begründete Meinung dazu zu hören, ich meine natürlich diese Geschichten in Lagerinn, Lullas Traum und die Sache mit Björgvin und Finnur, ja, wäre doch spannend, deine Ansicht dazu zu erfahren, eine wissenschaftliche Einschätzung.
    Björgvin hakte die Daumen wieder hinter die Hosenträger und blickte zum Podium hinauf. Die alten Bekannten sahen sich in die Augen, vielleicht zum ersten Mal seit Jahren, das heißt seit damals, als Björgvin den Astronomen von »diesem Blödsinn« abbringen wollte und damit meinte: Latein, sauteure uralte Schwarten, die Familie vor die Hunde gehen zu lassen. Wahrscheinlich hatte Björgvin seinem früheren Kumpel nie verziehen, dass der dem Erfolg und dem Wohlstand den Rücken wandte, denn eine solche Entscheidung, ein solcher Entschluss oder wie immer man eine solche Idiotie nennen will, war geradezu systemfeindlich, asozial,

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