Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
Vom Netzwerk:
untergrub die Position der anderen, sprach sämtlichen »Werten« Hohn. Von jenem Tag an hatte sich ihr Umgang jedenfalls auf das Minimum beschränkt, das in einem 400-Seelen-Ort unumgänglich ist. Möglicherweise erschien Björgvin das Verhalten seines ehemaligen Freundes gegenüber dessen Frau als das größte Verbrechen: Wie um alles in der Welt konnte man ein Leben mit einem solchen Menschen für den Sternenhimmel, für eine tote Sprache und für alte Bücher aufgeben? Björgvin hatte seinem Freund sogar geraten, du solltest Hilfe suchen, sprich mit einem Psychologen, mit einem Nervenarzt, es gibt Medikamente gegen so was; doch da hatte der Astronom zurückgefragt: Glaubst du, es gibt eine Medizin gegen das Leben?
    Seitdem waren Jahre vergangen, und jetzt standen sie sich hier im Gemeindesaal Auge in Auge gegenüber, das Schweigen um sie herum summte vor Spannung, und endlich bekam der Astronom die Zähne auseinander. Du wirst auf eine schöne Weise alt, Björgvin, sagte er. Björgvin war so vor den Kopf getroffen, dass er sich hinsetzte. Er guckte Sibba an, die ihm zunickte, worauf Björgvin leise aufseufzte und zurück zum Podium blickte, wo der Astronom die Hände aufs Rednerpult legte – sein ebenfalls graues Haar war straff zurückgekämmt, und der dicke, dunkle Pullover ließ sein Gesicht noch blasser wirken -, dann sagte er: Ganz egal, wie sehr die Wissenschaft auch voranschreitet, wir werden unsere Angst vor dem Dunkel niemals los, vielleicht nimmt sie sogar eher zu, weil der moderne Mensch – und damit meine ich die Menschen in den Städten, uns hier kann man wohl kaum zu den modernen Menschen rechnen – die Dunkelheit nicht mehr kennt, sie ist mit übermäßiger Beleuchtung, mit einem Überfluss an elektrischem Licht ausgerottet worden. Die Menschen finden sich im Dunkel der Natur nicht mehr zurecht, wissen nicht mehr, wie sie sich in der Dunkelheit bewegen müssen. Meine Freunde im Ausland haben mir eine Unzahl einschlägiger Beispiele mitgeteilt, Kinder brechen sogar in lautes Weinen aus, wenn sie einmal unerwartet vor der natürlichen Dunkelheit stehen. Ich nehme an, dass einige das Degeneration nennen. Aber vielleicht betrifft es auch uns schon, denn wenn es hier dunkel wird, hält sich kaum noch jemand im Freien auf, das weiß ich von uns allen am besten, die meisten sind vor den Fernseher gefesselt, vom Computer oder vom Sex oder kauern bis zum Hals in ihren Heißwasserpools. Schön und gut, über die anderen Fragen, die Lagerhalle und Finnur und Björgvin betreffend, kann ich wenig sagen, ich will nur daran erinnern, dass Finnur ein ehemaliger Politiker ist, und zu deren Charakter gehört es, zu verschwinden, sich in Luft aufzulösen, sobald sie zurücktreten und ihre Macht abgeben. Der Mensch ist, was er tut, und Macht und Einfluss gehören in die Sphäre der Politik, nimm einem Politiker beides, und es bleibt nichts mehr von ihm übrig, was Wunder, dass sie sich auflösen und verschwinden wie Finnur? Über Lagerinn möchte ich mich nicht weiter äußern, ich habe noch nicht mit meinem Sohn darüber gesprochen und weiß daher sehr wenig; immerhin behaupten manche, die gesamte Existenz sei subjektiv, was bedeutet, dass alles, was in deinem Kopf ist, auch aus sich selbst heraus existiert. Gehen wir von dieser Grundannahme einen Schritt weiter, dann werden Dinge real, sobald wir sie hier fabrizieren, sagte er und tippte sich an die vor Weisheit ergraute Schläfe. Spuk ist vielleicht nichts anderes als ein Geisteszustand, aber jeder Geisteszustand ist auf gewisse Weise auch Realität, und natürlich ebenso umgekehrt. Andererseits gibt es Theorien, die nicht nur von einem Leben, das nach diesem kommt, ausgehen, sondern behaupten, der Abstand zwischen den Welten der Lebenden und der Toten sei so gering, dass es nur einer winzigen Abweichung, eines kleinen Wetterumschwungs im Seelenleben einer Person bedürfe, und schon würde die dünne Membran reißen, die diese Welten voneinander trennt. So etwas mag vorgekommen sein, mal ohne, mal mit verheerenden Folgen. Es gibt jüngere Berichte von Bergdörfern in Nepal und Peru, die auf mysteriöse Weise zerstört wurden, in Großstädten verschwinden Menschen, als ob sie vom Erdboden verschluckt oder vom Himmel aufgesaugt worden wären, in einem Dorf in Wales verloren sechzehn gesunde Männer und ein Hund an einem Nachmittag den Verstand; sie hatten nichts weiter getan, als sich im örtlichen Pub ein Fußballspiel anzusehen. Warum sollte sich nicht auch bei

Weitere Kostenlose Bücher