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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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wie stumm alles war, und da fielen ihm die Welpen ein, ihre lächerliche Freude am Leben, und er dachte auch an die treue Hündin. Sicher sind sie im Haus, dachte er und ging los, um sie herauszulassen. Er war noch nicht weit gekommen, als Asdis an der Haustür erschien und ihn vom Treppenabsatz herab ansah. Wo willst du hin?, fragte sie leise.
    Nur die Hunde rauslassen, ich … Er brach ab, als er ihren Gesichtsausdruck sah.
    Ich, sagte sie, sprach dann aber nicht weiter, das brauchte sie auch nicht, sie sah nur zu ihm hinab, und er begriff: die Stille, die Abwesenheit der jungen Hunde, er wusste, was passiert war. Wie erkläre ich das den Kindern, dachte er, und in ihm wurde es finster.
    Kjartan verkaufte tatsächlich den Hof, jeden Halm, jeden Wiesenhöcker und jede Felskuppe oberhalb des Hauses, die Verstecke seiner Kindheit und die Aussicht über den weiten Fjord mit all seinen Inseln und Schären, er verkaufte das Vieh, die Gerätschaften, die Ställe, und dann zogen sie weg. Wie aber verabschiedete man sich von einem Berg, wie ließ man Grashalme und Bülten und die Steine auf dem Hofplatz hinter sich?

Wozu habe ich gelebt, fragte unsere Tante auf dem Totenbett, und wir öffneten den Mund, um eine Antwort zu geben, ohne eine zu kennen, doch da war sie schon tot, denn der Tod ist uns einen guten Schritt voraus.
    Wir haben die Nacht über den Bergen heraufdämmern sehen und standen noch draußen, als ein schwaches Beben die Luft durchzitterte, die Vögel sahen auf, und dann erhob sich ein feuriger Ball im Osten. Wozu leben wir? Kann man eine solche Frage beantworten? Vielleicht nicht. Haben wir eine Aufgabe darüber hinaus, Lippen zu küssen und so weiter? Aber zuweilen, und zwar meist kurz bevor uns der Schlaf übermannt und der Tag mit all seiner Unruhe vorüber ist, wenn wir im Bett liegen, dem eigenen Puls lauschen und wenn die Dunkelheit durch die Fenster kriecht, dann erwacht der unangenehme Verdacht, dass wir diesen zu Ende gegangenen Tag nicht richtig genutzt haben, dass wir etwas hätten tun sollen, aber nicht wissen, was. Hast du dir eigentlich schon mal klargemacht, dass es uns noch nie in der Geschichte so gut gegangen ist wie heute, dass der Einzelne noch nie mehr Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Gestaltung seiner Umgebung besaß, dass es noch nie so leicht war, sich zu engagieren und etwas zu verändern, dass aber auch selten so wenig Wille dazu vorhanden war – woher kommt das? Liegt die Antwort darauf vielleicht in einer anderen Frage versteckt: Wem nützt dieser Zustand am meisten?
    Wozu habe ich gelebt? Unsere Tante Björg war zweimal verheiratet und hatte drei Kinder. Ihr erster Ehemann stürzte beim Sammeln von Seevogeleiern aus einer Felswand mehr als dreißig Meter in die Tiefe. Er war gerade mal zwanzig, und ein halbes Jahr später kam ihr Sohn zur Welt. Björgs zweiten Mann warf der Russenjeep aus einer Kurve, er stürzte, sich viermal überschlagend, einen Abhang hinunter und landete, hinter dem Lenkrad eingeklemmt, mit dem Kopf in einem Fluss, der langsam sein Leben mit sich fortspülte. Björg saß daneben, hatte die Beine gebrochen und konnte nichts weiter tun als zusehen und seinen Namen so oft rufen, dass ihr die Lippen taub wurden. Da war sie um die fünfzig. Sie starb mit über neunzig, und wir nannten sie manchmal ein echtes Immergrün, denn trotz des vorzeitigen Todes der beiden Männer, die sie im Leben geliebt hatte, wirkten ihre Lebensfreude und ihr Glaube an das Leben ungebrochen, wo immer sie erschien, wurde es schöner und besser. Daher erschraken wir ziemlich über ihre letzte Frage auf dem Totenbett, aber vielleicht lag gar keine Verzweiflung darin, vielleicht sagte sie es nur so dahin und wollte sich selbst eine Antwort darauf geben, aber dann trat der Tod dazwischen. Wir werden uns also für immer damit abfinden müssen, dass es in Björg möglicherweise tiefen Zweifel und dunkle Schatten gegeben hat, aber wann kennt man einen anderen Menschen schon wirklich? Wir sehen doch selten mehr als die Oberfläche, und darunter können Welten liegen, von denen wir nicht den leisesten Schimmer haben. Wir ahnten doch damals auch nicht das Mindeste von Hannes’ Verzweiflung, uns fiel nicht im Traum ein, dass aus dem Geschäftsführer der Strickfabrik einmal der Astronom werden sollte, und keiner verdächtigte Kjartan, dass er seine Begierde nicht im Zaum halten könne, dass Äsdis, diese Seele von einem Menschen, fähig war, einen Hahn zu enthaupten und drei junge Hunde

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