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Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman

Titel: Sommerlicht, und dann kommt die Nacht: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jón Kalman Stefánsson , Karl-Ludwig Wetzig
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zu erschießen, deren Lebensfreude wir niemals vergessen werden. Ebenso wenig vergessen wir Björgs letzte Frage: Wozu habe ich gelebt? Sollten diese kurzen Geschichten vom Leben und Sterben in diesem Ort eine Art von Reaktion auf diese Frage und die Verunsicherung sein, die ihr folgte?
    Wir sprechen, schreiben und erzählen von großen und kleinen Dingen, um zu versuchen zu verstehen, um etwas zu fassen zu kriegen, womöglich den Kern der Sache, der aber ständig vor uns zurückweicht wie das Ende des Regenbogens. Die alten Geschichten behaupten, der Mensch könne das Antlitz Gottes nicht schauen, das wäre sein Verderben – etwas Ähnliches gilt zweifellos für das Ziel unserer Suche. Die Suche selbst ist das Ziel, ein Endergebnis würde uns seiner selbst berauben. Und natürlich ist es die Suche, die uns die Worte lehrt, mit denen wir das Funkeln der Sterne, das Schweigen der Fische, Trauer und Lachen, das Ende der Welt und das Sommerlicht beschreiben können.
    Haben wir eine Aufgabe darüber hinaus, Lippen zu küssen? Übrigens, weißt du überhaupt, wie man »Ich begehre dich« auf Latein sagt? Und wie sagt man es in unserer Sprache?

Im Wald geht einem vieles durch den Kopf, besonders wenn ein großer Fluss hindurchströmt
    An einem Februartaghielt der grüne Linienbus mit einem tiefen Schnaufer auf dem Parkplatz vor dem Genossenschaftsladen, die Türen klappten auf, und ein Mann in so roten Hosen stieg heraus, dass man glauben mochte, seine Beine würden in hellen Flammen stehen. Das war etwa eine Woche, nachdem sich die Glühbirnen verabschiedet hatten und über Davið und Kjartan die Dunkelheit hereingebrochen war, die Futtersäcke Kjartan beinah den Garaus gemacht hätten, die Leiter kippte und sie einige Dinge in diesem Dunkel nur noch mit Mühe finden konnten. Es ging nicht sonderlich gut.
    Außer Sigriður und den beiden Freunden betrat niemand die Lagerhalle (von Benedikt erfuhren wir erst viel später), und Sigriður erklärte, außer dass man eben die Hand nicht vor Augen sähe, gäbe es überhaupt nichts Außergewöhnliches, das Leitungsnetz sei halt zusammengebrochen, aber Simmi habe schon im Süden Ersatzteile bestellt, und bald dürfe man auch mit einem neuen Abteilungsleiter rechnen. Es geht überhaupt nichts Ungewöhnliches vor, was, zum Donnerwetter, sollte das auch sein, meinte sie, aber im Dunkeln arbeitet es sich nun mal nur langsam, es zehrt an den Nerven, und man kann es den Mitarbeitern kaum verdenken, wenn sie vermehrt an die Hausreste unter dem Fußboden denken. Haben wir doch Geduld mit ihnen. Sigriður konnte schon immer sehr überzeugend sein, es ging also nichts Ungewöhnliches vor, aber zuhause saß Guðmundur mit einem wunden Penis; ihr Sexleben war auf einmal derart abwechslungs- und einfallsreich und wild geworden, dass er manchmal ungeduldig darauf wartete, dass sie nachhause kam, manchmal aber auch nicht. Sie war wie Unwetter und Sturm.
    Nichts Ungewöhnliches also im Gange, und sie hatte natürlich vollkommen recht, es war das Vernünftigste, so an die Sache heranzugehen, aber was wissen wir am Ende schon? Manchmal hat unser Dasein so wenig mit Vernunft und Verstand zu tun – vielleicht war es doch schlicht und ergreifend Spuk, fast zweihundert Jahre alte Menschen, die wieder umgingen. Und du weißt, was das bedeutet: Es ist der Beweis für ein Leben nach dem Tod. Es ist nicht gerade eine Kleinigkeit, dafür einen Beweis zu erhalten, vielleicht das Größte überhaupt. Damit fällt auch das Leben nicht mehr so schwer, man scheut in den dunkelsten Winternächten nicht mehr so davor zurück, schlafen zu gehen. Auf all das spielte Elisabet ziemlich geschickt und herausfordernd an, als sie den Februarvortrag des Astronomen mit den Worten ankündigte, er werde über Dinge reden, die Leben und Tod beträfen, und aufgepasst! – über den Abstand zwischen ihnen.
    Dieser Vortrag des Astronomen fand außergewöhnlichen Zulauf. Der Abend kam, und fast jeder Platz war besetzt. Wohl die Mehrzahl der Ortseinwohner erschien, auch diejenigen, die sonst aus gesundheitlichen Gründen verhindert waren oder der kleinen Kinder oder des Fernsehprogramms wegen; ebenso tauchte der eine oder andere Besucher aus dem Umland auf, der Gemeindevorsteher mit der Schirmmütze saß ebenfalls breitbeinig im Publikum. Elisabet servierte Kaffee, Tee, Schmalzkringel und eine Art belegter Brote, unglaublich lecker, und ein achtzehnjähriges Mädchen aus dem Ort assistierte ihr dabei. Toll, wie geschickt sie

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