Sommermaerchen
Lucy je wieder in die Augen blicken können.
In der Halle herrschte drückendes Schweigen. Lady Sinclair war zu wütend, um das Wort zu ergreifen und Lady Pelham zu verlegen. Lucy wusste, wenn sie jetzt etwas sagte, würde man sie bloß harsch zurechtweisen. Es geschah dennoch.
„Lucy, würdest du uns bitte allein lassen?“, fragte Lady Sinclair barsch.
„Aber ...“
„Sofort!“ Lady Sinclair bellte das Wort förmlich heraus.
Widerwillig wandte sich Lucy zum Gehen, nicht ohne ihrem Bruder zuvor einen mitfühlenden Blick zuzuwerfen.
Er bemerkte es gar nicht, denn er hielt die Augen unverwandt auf seine Mutter gerichtet.
Als Lady Pelham ihn schließlich ansah, schien sie ... enttäuscht. „Oh, Charles“, sagte sie bloß, in seiner Miene nach Antworten suchend.
Lady Sinclair hingegen mangelte es nicht an Worten. „Pelham, ich weiß nicht, was Sie sich dabei gedacht haben, sich solche Freiheiten herauszunehmen, aber Sie werden nicht damit durchkommen.“
Charles zuckte gleichgültig die Schultern, obwohl sein Blut immer noch in Wallung war. Beatrice im Haus ihres Vaters zu küssen war mehr als leichtsinnig gewesen, nahezu selbstzerstörerisch. Es war ihm gleich gewesen, ob man sie entdeckte, obwohl er wusste, dass eine Entdeckung ihn unweigerlich dazu verpflichten würde, Beatrice zu ehelichen. Und das wollte er nicht, oder etwa doch? Charles war sich nicht mehr sicher.
Welche Freiheiten hatte er sich also herausgenommen? Er hatte die atemberaubendste Frau, die er kannte, hemmungslos voller Glut geküsst. Gleich, was die Konsequenzen auch sein mochten, das war es wert gewesen.
„Pelham?“, rief Lady Sinclair entrüstet.
Er sah auf. „Ja?“
„Sie hören mir nicht einmal zu, Sie unverschämter, nichtsnutziger ...“
Lady Pelham schnitt ihr das Wort ab. „Wie Louisa schon sagte, Charles, kannst du nicht vorgeben, es sei nichts geschehen.“
„Derlei Absichten habe ich nie geäußert, Mutter ...“, fing er verärgert an, doch Lady Pelham unterbrach ihn.
„Das habe ich auch nicht behauptet. Allerdings wirst du die Verantwortung für dein Handeln übernehmen müssen.“ Sie atmete tief ein, ehe sie fortfuhr: „Louisa und ich werden mit Beatrices Vater sprechen. Triff uns in einer Stunde im Arbeitszimmer.“
Charles nickte und ging.
Eine Stunde später warteten Lady Pelham, Lady Sinclair und Lord Carlisle wie verabredet im Arbeitszimmer auf Charles. Beatrices Vater gab sich bemerkenswert gelassen, obwohl sowohl Lady Pelham als auch Lady Sinclair wussten, dass dieser Schein trog. Seine fest zusammengepressten Lippen und seine auf den Schreibtisch trommelnden Finger offenbarten seine wahren Gefühle.
Es klopfte an der Tür, gleich darauf trat Charles ins Zimmer. Seine Empfindungen hatte er sorgsam verborgen, äußerlich erschien er ruhig, gleichgültig, entspannt.
Lord Carlisle räusperte sich. „Ich werde dieses Gespräch nicht unnötig in die Länge ziehen, Pelham. Sie haben meine Tochter kompromittiert, also werden Sie sich mit ihr vermählen.“
Charles schwieg.
„Haben Sie nichts zu dem Vorfall zu sagen?“, blaffte Lord Carlisle ungehalten.
„Ich liebe Beatrice nicht.“
Lord Carlisle fuhr sich mit der Hand durchs Haar, bemüht, die Beherrschung nicht zu verlieren. „Das wäre in einer solchen Situation wohl auch ein wenig zu viel verlangt.
Allerdings können Sie mir glauben, dass ich meiner Tochter niemandem zur Gattin geben würde, der sie vernachlässigt oder schlecht behandelt. Ich habe ausführlich mit Beatrices Tante darüber gesprochen. Sie ist der Auffassung, dass Sie einen guten Charakter besitzen. Ich kann akzeptieren, wenn Sie Beatrice nicht lieben, solange Sie meine Tochter respektvoll behandeln. Vielleicht entwickelt sich im Laufe der Zeit ...“
„Ich werde sie auch nicht lieben lernen“, erklärte Charles unmissverständlich.
Lord Carlisle stand erzürnt auf. „Vielleicht ist Ihnen entfallen, dass Sie allein Schuld an dieser Situation tragen, Pelham. Es steht Ihnen nicht zu, sich ungebührlich zu verhalten.“
Charles antwortete nicht. Sein Schweigen schien von Grausamkeit und Gleichgültigkeit zu zeugen, doch in Wahrheit saß ihm ein Kloß in der Kehle, der ihn am Sprechen hinderte. Seine Gefühle waren zu mächtig, als dass er damit hätte umgehen können.
Lord Carlisle schüttelte verärgert den Kopf. „Ich kannte Ihren Vater. Er war mein Freund. Sie sind sein Ebenbild, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er ihr jetziges Verhalten gutheißen
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