Sommermond
dass einem ihr lautes, chaotisches Gerede zu viel wurde. Doch Ben ermahnte niemand anderen mit dieser Geste. Er ermahnte sich selbst.
Sein Verstand zog die Notbremse und schaltete seine Gedanken von einer auf die andere Sekunde ab. Was blieb, waren leichte Nachwehen seiner kurzzeitigen Überforderung und die eindeutige Erkenntnis, dass er weder wütend noch enttäuscht war; dass er im Grunde fast gar nichts empfand. Nur eines. Und das war Sorge.
14
Eine Woche war es nun her, dass Alex mit verletztem Fuß, schmerzenden Knochen und verbundenen Augen aus der dreckigen Wohnung des Pädophilen gezerrt worden war.
In den vergangenen Tagen hatte er sich nicht nur mit vielen dubiosen Kerlen, die für den Spanier arbeiteten, treffen und Informationen sammeln, sondern auch mit seiner ganz persönlichen Identitätskrise fertig werden müssen. So hatte er nicht nur den erwarteten Ablauf des Plans erfahren, sondern auch, wie es war, wieder auf sich allein gestellt zu sein.
Er hielt sich an die strikten Vorgaben des Spaniers und hatte sich nicht mehr bei Ben gemeldet. Auch weihte er weder Jo noch Oberkommissar Wagner, der das letzte Mal vor drei Tagen für ein Gespräch vorbeigekommen war, in die kriminellen Machenschaften ein. Zu stark befürchtete er, Ben in Gefahr zu bringen. Denn das wollte er nicht. Nicht, nachdem Ben schon einmal um sein Leben hatte kämpfen müssen.
Er beantwortete Bens SMS nicht, reagierte auch nicht auf dessen Anrufe. Mit Jo tauschte er nur flüchtige Worte und hielt sich größtenteils von ihm fern. Er hatte ihm erzählt, dass die Typen ihn plötzlich in Ruhe ließen; dass sie möglicherweise Angst vor der Polizei bekommen hätten und nicht noch mehr lostreten wollten. Er hatte nicht das Gefühl, dass sein Vater ihm diese Story abkaufte. Doch Jo blieb nichts anderes übrig, als ihm zu glauben. Was sollte er sonst tun? Ihn beschatten lassen?
Die eigentlichen Umstände, in denen er steckte, versuchte er sich nicht anmerken zu lassen. Betrachtete er sich dabei aus einer unbeeinflussten Perspektive, sah er, dass ihm das oft partiell misslang.
Er hatte sich zu schnell zu sehr verändert. Man sah ihm die Spuren an, die die psychische und körperliche Folter hinterlassen hatte. Man sah auch, dass er ein Geheimnis in sich trug, unter dessen Last er tagtäglich zusammenzubrechen drohte. Doch er brach nicht zusammen. Er tat alles, was der Spanier von ihm verlangte. Er sah es als einzige Möglichkeit, noch mit einem blauen Auge aus der Sache herauszukommen. Er wusste, wozu die Kerle fähig waren. Live hatte er dabei zusehen müssen, wie sie den Kerl in der Wohnung abgeknallt hatten. Aber er wollte nicht sterben. Zwar wusste er nicht mehr viel, für das es sich zu leben lohnte, doch irgendwas gab es immer. Zum Beispiel die Jahre, die ihm noch bevorstanden und von denen er nicht wusste, was sie ihm bringen würden. Etwas, was er nie erfahren würde, wenn er sich dem Spanier nicht fügte. Im Kontrast zum eiskalten Tod waren all die Dinge, die man ihm angetan hatte, kein Grund, sich aufzugeben. Es waren Belanglosigkeiten. Kleinigkeiten. Dinge, die man in fünf oder zehn Jahren vergessen haben würde.
Mit seinem Fuß und seiner Nase war er beim Arzt gewesen. Nicht bei seinem üblichen Arzt, sondern bei irgendeinem Arzt. Dem hatte er eine angeblich harmlose Prügelei auf die Nase gebunden und sich anschließend schweigend behandeln lassen. Sein Fuß war tatsächlich verstaucht. Deshalb trug er einen festen Verband, unter den er in regelmäßigen Abständen eine kühlende Salbe schmierte. Seiner Nase ging es besser. Der Arzt hatte sie als gebrochen diagnostiziert, sich aber nach gründlichem Abtasten der Schwellung vorerst gegen eine operative Maßnahme entschieden. Diese würde nur dann folgen, wenn bei abklingender Schwellung noch immer ein Schiefstand oder kleiner Höcker zu sehen wäre. Doch das war bislang nicht der Fall. Ganze drei Tage hatte es Alex mit einem hässlichen Stützverband im Gesicht ausgehalten, ihn dann aber abgerissen. Der Heilungsprozess verlief gut und solange er vorsichtig mit seiner Nase umging, tat sie nicht weh.
Körperlich ging es ihm also besser, während er psychisch in eine neue Labilität abzurutschen drohte.
Alles schien von neuem zu beginnen: Er stellte sein Wohlbefinden ganz nach hinten und vernachlässigte sein Leben. Er interessierte sich nicht für seine Mitmenschen und fraß sämtliche Sorgen in sich hinein. Seine imaginären Scheuklappen verboten ihm einen Blick zur
Weitere Kostenlose Bücher