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Sommermond

Titel: Sommermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. Hart
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Seite oder nach hinten. Für ihn gab es nur noch das Geradeaus, und dieses Geradeaus war ein langer, dunkler Tunnel, den er gehen musste, um das Licht an dessen Ende zu erreichen. Er konnte keine Rücksicht auf Jos oder Bens Gefühle nehmen. Im Grunde nahm er das schon zu Genüge. Nur wegen ihnen hatte er in den spanischen Plan eingewilligt. Nur, um die beiden zu schützen. Er nahm all die Strapazen und Gefahren auf sich, damit ihnen nichts geschah.
    In diesem Punkt hätte ihm die Polizei nicht helfen oder beistehen können. Das Netz der Handlanger und Untermänner des Spaniers war zu groß. Bis die Polizei triftige Gründe für jeden einzelnen von ihnen haben würde, um sie festzunehmen, konnten Monate – ja, vielleicht Jahre – vergehen. Bis dahin wäre Alex ihnen hilflos ausgeliefert und hätte ohnehin tun müssen, was sie von ihm verlangten, um Ben zu schützen. Deshalb hatte er sich die unnötigen Komplikationen erspart und handelte nun auf eigene Faust. Das ging schneller, war einfacher und erweckte weniger Aufsehen. Dass er selbst darunter litt und nun niemanden mehr hatte, mit dem er sich austauschen konnte, verdrängte er. Ben fehlte ihm, aber immer dann, wenn er an den Dunkelhaarigen zu denken versuchte, zog sein Verstand die Notbremse und schaltete seine Gefühle aus. So blieb nur eine menschliche Hülle zurück, die fast maschinell handelte und allen äußeren Anweisungen Folge leistete. Und das war es ihm wert. Das war ihm Bens Leben wert. Einen größeren Liebesbeweis gab es wohl nicht einmal in Filmen oder Büchern; und wenn doch, dann kannte er sie nicht. Dass dieser Beweis, hinter dem sich neben Aufopferung auch Gefühle und Fürsorge verbargen, dem realen Schein widersprach, war ihm bewusst. Ben musste denken, dass Alex ihn nicht mehr sehen wollte und hielt ihn vermutlich für das größte Arschloch der Welt. Vermutlich war er das auch. Ein Arschloch. Aber dieses große Arschloch war gerade darum bemüht, Bens Leben zu retten. Und diese beiden Fakten hoben sich gegenseitig auf. Also war er weder ein Arschloch noch ein Held, sondern ein Jemand, der sich im verstrickten Chaos seiner Probleme verloren hatte und nicht mehr wusste, wo vorn und hinten war. Jemand, der die berüchtigten Scheuklappen weder aus Naivität noch Dummheit trug, sondern aus nur einem einzigen Grund. Und der war Angst. Angst, dass es ohne sein Zutun noch wesentlich schlimmer kommen könnte. Dabei wurde er fast gezwungen, eine Art Gott zu spielen, der mit seinen Handlungen und Entscheidungen über das Schicksal seiner (Mit)Menschen bestimmte.
    Ein Gott, der in der Hölle lebte.
    ***
    Heute war es so weit. Heute war der Tag, an dem Alex sich in die Drogenszene begeben und einschleusen sollte. Sie hatten alles genau geplant. Jede noch so unscheinbare Einzelheit.
    Alex stand vor seinem kaputten Spiegel. Mit jedem Atemzug wuchs das mulmige Gefühl in seinem Magen. Gerade so, als ob er die Angst einatmete, die sich dann von seiner Lunge aus in seine Bronchien arbeitete und von dort aus in seinen Blutkreislauf gelangte.
    Er fühlte sich unwohl, weil er trotz der detaillierten Planung nicht wusste, was ihn erwartete. Das eine war die Theorie, das andere die Praxis.
    Er sah sich im Spiegel und fühlte sich seinem Spiegelbild dabei verbundener als üblich. Die Risse, die sich durch die Spiegelfläche und damit auch durch sein Ebenbild zogen, symbolisierten nur zu gut, wie er sich fühlte: zerrissen.
    Innerhalb einer Woche hatte er vergessen, wer er war. Wenige Tage hatten genügt, um ihn zurück in den Sumpf von Kriminalität zu ziehen, in der er unterzugehen drohte. Die kurzzeitige Besserung seiner Lebensumstände, die er Ben zu verdanken hatte, waren längst wieder vergessen. Gefühle, die er einst zu haben geglaubt hatte, verblassten. Gedanken, die an seine Vernunft appelliert und ihn an sein altes Leben erinnert hatten, gab es nicht mehr. Er war nur noch eine Hülle seiner selbst, die wie seelenlos vorm Spiegel stand und sich objektiv musterte.
    Mit den kurzen Haaren kam er derweil gut klar. Es war nur noch etwas ungewohnt, wenn kühler Wind über seinen Kopf blies. Das fühlte sich anders an als früher. Ansonsten war es okay. Es musste okay sein. Er konnte ohnehin nichts daran ändern. Die Platzwunde an seinem Hinterkopf war fast verheilt und hatte eine mit verkrustetem Blut geschmückte Narbe hinterlassen. Nur die Kopfschmerzen waren noch da. Zwischenzeitlich wurden sie so stark, dass sich sein Rachen mit einem metallischen

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