Sommermond
eine Spritze verpasst, die sein gesamtes Denken ausschaltete. Doch eine derartige Spritze gab es nicht. Deshalb musste er mit seiner Situation zurechtkommen, auch wenn das schwer war.
Langsam ließ er die Hände aus seinem Gesicht rutschen und öffnete die Augen. In dem Regal gegenüber seinem Bett stand das Fotoalbum, das er sich mit Ben angeschaut hatte. Der Anblick weckte sofort neue Emotionen in ihm. Ihn überkamen Gefühle wie Sehnsucht, Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Dazu kam Wut, die in Form von brennendem Adrenalin durch seine Nervenbahnen jagte. Es kribbelte in seinen Füßen und Händen. Er wollte keine Gefühle haben, zumindest die Wut loswerden. Doch er nahm sich zusammen und versuchte rational zu bleiben. Ein Ausraster half ihm nicht weiter. Das wusste er. Deshalb ließ er sich seitlich aufs Bett plumpsen und stöhnte laut auf. Wieder hob er seine Hände und fuhr sich über seine kurzen Haare. Dann schloss er seine Augen. Einen kurzen Moment versank er in einer Art Traumwelt, in der er sich an die Zeit mit Ben erinnerte, melancholisch wurde und daran dachte, dass alles hätte so einfach sein können. Einfach und schön. Aber die Realität sah anders aus. Seine kurze Zeit mit Ben gehörte nun der Vergangenheit an. Und in ihr hatte er auch sich selbst gelassen - einen Alex, der weder trank noch sich durch die Welt vögelte; einen Alex, der für wenige Stunden an das Glück im Leben geglaubt hatte.
Doch seitdem hatte er sich wieder verändert. Jetzt war er wieder der Alex, der mit beiden Beinen in einem Berg Scheiße stand, an der er zu krepieren drohte. Und dieses Mal war er sich selbst so fremd geworden, dass er nicht mehr glaubte, sich irgendwann noch einmal wiederzufinden. Dafür war es zu spät. Mittlerweile lebte er ein Leben, das mit jedem neuen Tag schmerzvollere Spuren hinterließ. Spuren wie Narben, die für immer ein Teil seines weiteren Lebens bleiben würden.
***
Am nächsten Morgen wachte Alex durch das Klingeln seines Handys auf. Schlaftrunken schlug er die Augen auf und blinzelte auf das Kissen unter sich. Er begriff das Klingeln nur sehr langsam als das seines Handys. Müde hievte er sein Becken hoch und pulte es aus seiner Tasche. Er drückte auf die Hörertaste, schloss seine Augen wieder und ließ sich zurück auf die Matratze fallen.
„Ja?“, meldete er sich.
Mit einer Hand massierte er sich die Augenpartie. Er hatte Kopfschmerzen. In seinen Schläfen pochte es. Außerdem war ihm schlecht und schwindelig. Sein Magen fühlte sich an, als wäre er über Nacht ausgepumpt worden.
„Wo bist du?“, schallte ihm die strenge Stimme des Spaniers entgegen.
Alex nahm die Worte auf, schaffte es aber nur langsam, ihnen einen logischen Sinn zuzuschreiben. Doch als es ihm dann gelang, richtete er sich abrupt auf und riss die Hand aus seinem Gesicht. Er wandte sich zu seinem Wecker und sah, dass es schon nach acht war.
„Fuck …“, nuschelte er und streifte sich die Decke von den Beinen.
Er trug noch die Klamotten vom Vortag. Offenbar war er sehr plötzlich eingeschlafen. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern.
„Ich gebe dir fünf Minuten!“, zischte der Spanier und legte auf.
Alex nahm sein Handy vom Ohr und musterte es argwöhnisch. Dann schob er seine Beine aus dem Bett und richtete sich auf. Die Erinnerungen an den Vortag kehrten nur schleppend zurück. Vereinzelte Bilder jagten an seinem inneren Auge vorbei und zwangen ihn in seinem verkaterten Zustand dazu, sie schlüssig zusammenzupuzzeln. Er erinnerte sich an den Kerl vom Bahnhof, der ihm einen geblasen hatte, an die vier Biere, das Treffen mit den Russen, das Telefonat mit dem Spanier, den Cognac und seinen Streit mit Jo.
Sein rechtes Auge hielt er zusammengekniffen, während er sich vorsichtig aufrichtete. Dabei beschleunigte sich nicht nur sein Puls, sondern auch das schmerzvolle Pochen in seinen Schläfen.
„Scheiße …“, murmelte er und stützte seinen Kopf mit einer Hand.
Fünf Minuten. Er wusste nicht, wie er das schaffen sollte. Er musste dringend auf Klo und hatte Durst. Doch diese Bedürfnisse ignorierte er. Stattdessen ließ er alles stehen und liegen, griff nur nach seinem Handy und schritt zur Zimmertür. Er öffnete sie und trat in den Flur. Diesem folgte er, indem er sich an der Wand abstützte. Er war sich sicher, sonst nicht geradeaus gehen zu können.
An der Treppe angekommen, wechselte er die Hand und hielt sich stattdessen am Geländer fest. Schon von oben hielt er Ausschau nach Jo. Doch
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