Sommermond
immer mehr in Gedanken und bemerkte erst, wie fest er sich die ganze Zeit auf die Lippe biss, als sie aufplatzte und zu bluten begann.
„Scheiße!“, fluchte er und wischte sich mit der Hand über den Mund.
Ein metallischer Geschmack legte sich auf seine Zunge. Alex schüttelte sich. Noch immer starrte er zum Wagen. Iwan beugte sich etwas nach unten und warf ihm einen „Nun mach schon!“-Blick zu.
Alex schluckte noch einmal kräftig und wandte sich schließlich um. Er musste seine Gedanken abschalten. Etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Er war zu weit gegangen. Ein Zurück gab es nicht mehr. Er konnte nur hoffen, dass dieses böse Spiel ein gutes Ende nehmen würde. Zumindest für ihn.
Schwer atmend trat er durch die Dunkelheit, stützte sich beim Gehen an rauen Baumstämmen ab und versuchte sein Gleichgewicht zu halten. Sein Schwindelgefühl wurde immer stärker. Der Mond leuchtete schwach durch die dichten Baumgipfel. Kühle Luft legte sich auf seine Wangen. Es roch nach feuchtem Moos und nassem Holz. Nasse Grashalme schlangen sich um seine Schuhe, blieben teilweise an ihnen kleben. Alex‘ Puls beschleunigte sich mit jedem Schritt. Er spürte Iwans forschen Blick hinter sich und durfte sich nicht zu seltsam verhalten. Deshalb nahm er sich zusammen, atmete noch einmal tief ein und schluckte seine Angst herunter. Er näherte sich der Bank, warf einen Blick auf den schwarzen Aktenkoffer und räusperte sich. Dadurch erhielt er die Aufmerksamkeit des jungen Kerls. Er erhob sich von der Bank, nahm den Koffer und trat auf ihn zu.
Alex warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Der Kerl nickte als Antwort. Er war völlig durchnässt. Seine dunklen Haare klebten platt an seinem Kopf, seine Jacke glänzte wie frisch gewaschen.
„Hast du das Geld?“, fragte er und blieb dicht vor ihm stehen.
Alex wusste, dass alles inszeniert war. Umso unnötiger erschien es ihm, dieses Gespräch zu führen. Er kam sich vor, als müsste er sein Können vor dem Dekan einer Schauspielschule unter Beweis stellen.
„Erst der Koffer“, erwiderte er trotzdem und deutete dabei in einer übertriebenen Geste auf den besagten Gegenstand.
Der junge Kerl nickte. Er verzog keine Miene, wirkte völlig ernst – fast, als ob die Sache für ihn keine Inszenierung war. Alex beneidete ihn um seine Kühnheit. Er wünschte, ihm würde die ganze Sache genauso leicht fallen.
Der Typ hielt den Koffer hoch, knipste ihn auf und hielt ihn Alex so entgegen, dass er ihn öffnen konnte. Alex zögerte noch einen Augenblick. Prüfend blickte er seinem Gegenüber in die Augen. Erst dann hob er seine Hände und klappte den festen Lederdeckel nach oben. Zunächst sah er nur ein paar Zeitungen. Irritiert schob er sie zur Seite und entdeckte daraufhin, wonach er gesucht hatte: große, abgepackte Päckchen mit weißem Inhalt.
Er wollte keine unnötige Aufmerksamkeit von möglichen Beobachtern erregen, breitete die Zeitung deshalb wieder aus und drückte den Koffer daraufhin zu. Dabei begann er sich zu fragen, ob das ganze Zeug echt war, bezweifelte es aber. Der Spanier musste etwas genommen haben, das Koks sehr ähnlich sah. In so kurzer Zeit hätte er niemals fünf Kilo Koks auftreiben können und es vermutlich auch nicht für nötig gehalten. Er wollte nur, dass der Deal echt aussah, nicht, dass er echt war .
„Okay …“, murmelte Alex und öffnete den Reißverschluss seiner Jackentasche.
Er zog das abgepackte Geld hervor und reichte es dem Fremden. Der wickelte das braune Papier etwas ab, spähte ins Innere des Päckchens und fuhr mit dem Daumen über die Geldscheinbündel.
„140“, sagte Alex.
Der Kerl nickte, klebte das Päckchen wieder zu und ließ es in der Innentasche seiner Jacke verschwinden. Anschließend reichte er Alex den Koffer. Der nahm ihn am Griff und zog ihn an sich heran. Dabei tat sich eine Mischung aus Erleichterung und Verzweiflung in seinem Inneren auf. Erleichterung, weil er den ersten Schritt geschafft hatte, und Verzweiflung, weil er wusste, dass diese Übergabe noch das geringste Übel des gesamten Abends war.
„War’s das?“, fragte er dann und nahm den Koffer an seine Seite.
Der Kerl nickte. „Das war’s.“
Alex starrte ihn an. Der Kerl starrte zurück und schien plötzlich zu erkennen, dass Alex Angst hatte. Er trat einen Schritt näher, verzog aber keine Miene.
„Das wird schon“, meinte er und sprach monoton.
Alex reagierte nicht auf diesen Kommentar. Er kannte den Kerl nicht und wollte keinen Fehler machen.
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