Sommermond
Erinnerungen in seinem Gedächtnis zu durchforsten. Es dauerte nicht lange, bis er schließlich die richtige fand. Auf einmal fiel ihm ein, woher er den Wagen kannte. Es war der, mit dem er entführt worden war.
„Was is`?“, fragte Iwan und warf ihm einen seitlichen Blick zu.
Alex zuckte innerlich zusammen. Er wandte sich an Iwan und starrte ihn an. Er musste sich schnell etwas einfallen lassen.
„Nichts“, log er deshalb. „Ich dachte nur, ich hätt‘ die Kippe nicht richtig rausgeworfen.“
Er tastete um seine Beine und tat so, als ob er sich dieser Vermutung vergewissern wollte. Dann ließ er das Fenster wieder nach oben und blickte erneut in den Seitenspiegel. Im Wagen hinter ihnen saßen zwei Kerle. Das konnte er sehen, und als er noch einmal genauer hinschaute, glaubte er sogar zu erkennen, dass Rafael der Kerl hinter dem Steuer und der Spanier der auf dem Beifahrersitz war.
Sie fuhren an den Landungsbrücken vorbei, überquerten weitere Ampeln und bogen noch ein paar Mal ab. Der schwarze Wagen blieb ihnen die ganze Zeit dicht auf den Fersen. Alex‘ Kehle wurde trocken. Er schielte zu Iwan. Der Russe schien nichts von ihren Verfolgern zu merken. Noch nicht.
Sie fuhren an Baustellen und Kränen vorbei. Die Straßen wurden leerer, die Gegend einsamer. Alex‘ Puls beschleunigte sich. Seine Fingernägel krallten sich in das Leder des Koffers. Wie gebannt starrte er in den Seitenspiegel und wagte es nicht, den Blick abzuwenden. Bald würde Iwan auffallen, dass sie verfolgt wurden. Bald würden nur noch ihr Wagen und der des Spaniers weiterfahren. Die vielen anderen Autos ließen sie immer weiter hinter sich.
Nach etwa zehn Minuten kamen sie in einer verlassenen Straße an. Rechts befand sich eine stillgelegte Kaianlage, links reihten sich bunte Baucontainer, dazwischen Schutthaufen und Bauplatten, dahinter ein gelber Kran. Iwan wurde langsamer. Alex starrte ihn an.
„Warum eigentlich hier?“, war das Einzige, was er über die Lippen brachte. „Warum nicht bei Pawlow zu Hause?“
Iwan lachte dreckig. „Meinst du das ernst?“
Alex nickte benommen.
„Beantworte dir die Frage selbst“, zischte Iwan und schüttelte den Kopf. „Idiot …“
Alex musste kräftig schlucken. Und als er anschließend wieder zurück in den Seitenspiegel schaute, waren ihre Verfolger plötzlich verschwunden. Alex traute seinen Augen nicht. Er renkte sich nach hinten. Doch der Spanier war nirgends zu sehen. Irritiert zog er seine Augenbrauen zusammen und wandte sich wieder an Iwan. Der Russe schaltete den Motor ab und streckte seinen Arm nach dem Handschuhfach aus. Alex ahnte, was er vorhatte. Stocksteif saß er da und starrte auf Iwans Hand, die das Fach aufknipste, den sich darin befindenden Kram zur Seite schob und nach der Pistole griff. Er nahm sie auf seinen Schoß und befreite sich aus seinem Gurt.
Alex regte sich nicht. Panik stieg in ihm auf, Fragen schossen in seinen Kopf. Plötzlich wünschte er sich sogar, dass der Spanier schnell wieder auftauchen würde, um rechtzeitig in die Situation einzugreifen. Was, wenn er zu spät kommen würde? Was, wenn Pawlow bis dahin herausfinden würde, dass das Koks nicht echt wahr?
„Komm!“, befahl Iwan und drückte die Fahrertür auf.
Alex starrte zu ihm. Er war zu keiner Bewegung fähig. Sein Körper war wie gelähmt. Er umklammerte den Koffer noch fester. Iwan warf die Fahrertür zu. Alex sah, wie er die Waffe in seiner Jacke verschwinden ließ und anschließend um den Wagen herumtrat. Er riss die Beifahrertür auf, beugte sich nach unten und packte Alex am Kragen.
„Du sollst aussteigen, hab‘ ich gesagt!“, fuhr er ihn an.
Er schnaubte cholerisch. Seine Gesichtsmuskeln waren so angespannt, dass er Alex an einen Boxer vor einem Kampf erinnerte.
„Tschuldige …“, murmelte Alex und ließ den Gurt in die Halterung schnallen.
Er nahm den Koffer und kletterte aus dem Wagen. Kaum dass er ausgestiegen war, blickte er sich um. Doch nirgends war etwas Auffälliges zu erkennen. Nur in der Ferne parkten ein paar Autos, ganz vorne ein silberner Wagen. Mehr konnte er nicht sehen, und mehr Zeit blieb ihm auch nicht, um darüber nachzudenken. Iwan packte ihn am Arm und riss ihn mit zum Bürgersteig. Der Kies war matschig. Das Unwetter hatte die Schlaglöcher in dunkle Pfützen verwandelt. Iwan zog ihn mit zum Bauzaun und schob diesen zur Seite. Es schien, als ob er sich hier auskannte; als ob es für ihn eine gewohnte Prozedur war, jemanden in dieses verlassene
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