Sommernachts-Grauen
an.
Erschrocken drehte Ella sich um und sah sein Gesicht so dicht vor ihrem, dass es unscharf wirkte. Dadurch war sie überhaupt erst in der Lage gewesen, ihn zu verstehen, denn seine Stimme kam ihr laut und deutlich vor.
„Wo warst du?“
„Wir wurden kurz hinter der Küche getrennt. Hast du mir ein Bier bestellt?“
„Nein, ich wusste schließlich nicht, wo du steckst.“
„Na wo schon? Ich bin doch mit dir hier hergekommen. Hast du den Typ gesehen, der dir zugewinkt hat?“
Ella nickte.
„Wer war das? Kennst du den etwa auch?“
„Das war Claus, mein Mitbewohner.“
„Ach, das war Claus? Den hab ich mir irgendwie anders vorgestellt.“
Ella bekam ihr Bier in einem Halb-Liter-Glaskrug serviert und bestellte unmittelbar ein neues. Ohne zu trinken, reichte sie es Reiner, der es dankend annahm und beinah zur Hälfte leerte.
„Sag mal, was ist das hier eigentlich für ein merkwürdiger Untergrund? Das knirscht so komisch.“
„Warst du noch nie hier?“
„Nein, warum auch? Ich bin normal nicht auf Piste, das weißt du doch.“
„Sieh mal genau hin“, sie sah selbst auf den Boden, um es ihm zu zeigen, „das sind Glasscherben.“
„Was, echt? Warum machen die denn so was?“
„Das kommt von den vielen Gläsern, die einfach auf den Boden gestellt werden, oder auf die Tische und bevor sie abgeräumt sind, landen sie eben auf dem Boden. Einige finden das auch lustig und zertrümmern ihr Glas.“
Inzwischen sangen Flock of Seagulls und die Masse tobte zu ‚Modern Love‘. Ella befürchtete bereits, dass sich gleich alles zu einem wilden Gehüpfe entwickeln könnte, bei dem sie sonst gern mitgemacht hätte. Heute aber trug sie ihre teuren Schuhe und hatte ohnehin Angst, sie in dem Glas auf dem Boden zu ruinieren.
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Was für ein geiles Lied, dachte Ulli, als sie Freeez hörte und wäre am liebsten gleich zu ihrer Freundin Ella gegangen, die sie bereits von Weiten erspäht hatte. Aber es war kein Durchkommen zu ihr möglich, um mit ihr zusammen zu tanzen. Außerdem musste sie dringend auf die Toilette.
In dem Waschraum der Toiletten angekommen, sah Ulli als erstes in einen Spiegel. Eine Angewohnheit, die sie von ihrer Tätigkeit als Model gelernt hatte: immer und überall auf das Aussehen zu achten. Keine einzige spiegelnde Fläche blieb ungenutzt, ganz egal wo sie sich befand.
Vor einigen Jahren war sie auf der Straße angesprochen worden, und man hatte ihr eine Telefonnummer gegeben. Sie hatte Angst, dass es sich bei dieser Sache um eine ganz andere Aufgabe hätte handeln können, aber es stellte sich heraus, dass die Nummer zu einer Agentur gehörte, die Fotomodels vermittelte.
Seither vernachlässigte sie ihr Studium, da sie für ihre Verhältnisse, und die der anderen, unglaubliche Reichtümer verdiente. Bereits nach einigen Monaten war sie in der Lage, aus ihrer stinkenden Wohngemeinschaft auszuziehen und sich eine eigene Wohnung in einer schönen alten Villa in Pöseldorf , ganz in der Nähe zum Mittelweg , zu leisten.
Ella war neidisch, denn sie war damals mit Ulli zusammen in der Stadt gewesen, als man sie angesprochen aber sie leider komplett ignoriert hatte. Dennoch gönnte Ella ihrer Freundin den Erfolg, denn das rückte auch sie in ein besseres Licht, zumindest dann, wenn sie neben Ulli stehen durfte und sah, wie sehr sie von allen begehrt wurde.
Ulli versuchte trotz allem, ihre alten Freunde nicht zu vernachlässigen, obwohl es für sie immer schwieriger wurde. Mittlerweile buchten sie sogar Agenturen im Ausland und sie hoffte darauf, sehr bald ihr Jura-Studium an den Nagel hängen zu können. Noch war sie jung und konnte damit unglaublich viel Geld verdienen. Wozu sollte sie daran denken, was werden würde, wenn sie die Dreißig überschritten hatte?
Sie kontrollierte nochmals ihren Lidstrich, obwohl sie dringend ihre Blase hätte entleeren sollen aber soviel Zeit musste sein. Noch immer hörte sie dumpf ‚I.O.U.‘ und wippte leicht mit ihrem Fuß im Takt. Das war sicher die extralange Version und wenn sie sich jetzt beeilte, dann könnte sie es noch schaffen, mit Ella dazu zu tanzen.
Die Bässe der Musik drangen durch die Wände hindurch. Auch wenn es hier deutlich ruhiger war, wäre eine entspannte Unterhaltung nicht möglich gewesen. Erstaunlicherweise mussten offensichtlich nur wenige Frauen die konsumierten Getränke entsorgen. Zwei kamen aus den Kabinen, lachten und scherzten zusammen, beachteten Ulli nicht, als sie sich die Hände wuschen und den
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