Sommernachts-Grauen
Nachdem sie mühevoll den Sitz mit Papier ausgelegt hatte, setzte sie sich, stützte ihre Ellenbogen auf den Knien auf und legte ihren Kopf in die Hände. Mit geschlossenen Augen holte sie tief Luft.
Alles wird gut, alles wird gut, alles wird gut, das sagte sie sich ständig vor. Kurz darauf wollte sie nach dem Toilettenpapier greifen und sah an die Wand der Kabine. Martin hatte irgendwann die Schnauze voll davon gehabt, dass immer alles beschmiert worden war und die Wände mit Tafelfarbe gestrichen. Schulkreide lag überall herum, damit keiner auf die Idee kam, doch wieder mit einem Filzschreiber seine Witze mitzuteilen. Ella verbrachte schon immer mehr Zeit auf der Toilette als notwendig, da es sie amüsierte, was andere für ein Mitteilungsbedürfnis hatten. Verabredungen wurden getroffen, Telefonnummern getauscht, Liebesschwüre oder aber Namen der Verflossenen an die Wand geschrieben, ebenso wie vollkommen schwachsinnige Sprüche.
‚Triff mich morgen um fünf.‘ ‚Alle Kinder rennen aus dem Haus, nur nicht Klaus, der schaut raus.‘ ‚Ilse ist verliebt in Kurt.‘ ‚Stimmt gar nicht.‘ ‚Kurt ist ein Arschloch, den kannste haben.‘ ‚Ich will ihn aber gar nicht.‘ ‚Hat jemand meinen Ohrring gefunden?‘ ‚Alle Kinder fahren Zug, bis auf Gunther, der liegt drunter.‘ ‚Denk dran, dass Du die Nächste bist und Dir das Gleiche passiert, wie Susi.‘ ‚Flirtet Reinhard mit der Ente, rennt der Erpel zur Polente.‘ ‚Wie viele politische Witze gibt es über Kohl? Keine, es ist alles wahr.‘
Ella fing an zu lachen, der Letzte war echt gut. Sie war aufgestanden, zog die Kette der Spülung, die mit lautem Getöse Wasser aus dem Kasten laufen ließ. Als sie bereits dabei war, die Kabine wieder zu verlassen, drehte sie sich um. Was hatte da noch gestanden? Sie suchte die Wand ab, wo war es? Vor der Tür kniend, um den gleichen Blickwinkel zu haben, suchte sie nach der Nachricht.
Wie vom Donner gerührt, stand sie plötzlich kerzengerade in der Kabine. Kalter Schweiß war ihr ausgebrochen. Wie paralysiert ging sie zum Waschbecken, ließ kaltes Wasser über ihre Hände laufen und verschwand aus der Toilette, ohne sich diese abgetrocknet zu haben.
Am Tresen sah sie Meier, der gerade mit seinem Bier an das Glas eines Mannes stieß. Es wunderte sie nicht mehr, mit wem sich Meier scheinbar angeregt unterhielt. Diese Nacht war so verrückt, dass sie nichts mehr erschüttern konnte.
„Hallo Claus“, sagte sie, „wie geht es dir?“
Claus nickte und steckte sich eine Zigarette an.
„Ihr kennt euch?“, fragte Meier.
„Ja klar, und woher kennst du Claus?“
„Er repariert mein Auto.“
„Ach ja, logisch.“
Ella schlug sich mit der Hand an die eiskalte Stirn.
„Ich bin ihr Untermieter“, ergänzte Claus und blies Ella Rauch direkt ins Gesicht.
„Du bist das?“
Meier begann zu lachen, verstummte jedoch, als er sah, wie sich Ella am Tresen begann, festzuhalten und er den Eindruck hatte, sie würde jeden Moment in sich zusammenfallen.
„Ella, ist bei dir alles in Ordnung?“, fragte er.
Ella schüttelte den Kopf.
„Bring mich bitte sofort hier weg.“
„Soll ich dich mit nach Hause nehmen?“ fragte Claus.
„Nein, auf keinen Fall“, sagte Ella viel zu laut.
„Ist ja schon gut, muss ja nicht sein“, sagte Claus, hob die Hand, drehte sich um und verschwand.
„Was ist denn los? Susi wird sicher schon zu Hause sein und vergessen haben, sich von dir zu verabschieden.“
„Nein, bestimmt nicht. Etwas Schreckliches ist passiert.“
„So ein Quatsch. Woher willst du das wissen.“
Ella griff nach Meiers Hand und zog ihn hinter sich her zu den Toiletten.
„Ella, das kann nicht dein Ernst sein, dass du jetzt hier mit mir schlafen willst, das hätten wir echt vorhin viel bequemer haben können. Und jetzt … ich weiß ja nicht.“
Ohne in der Lage zu sein, mit ihm zu sprechen, schob sie ihn in die Kabine, klappte den Deckel herunter und setzte ihn hin.
„Ey, was soll das? So hab ich da jetzt echt keinen Bock drauf. Wirklich Ella.“
Ella war zurückgetreten und verschloss die Tür von Außen.
„Lies das und sage mir, ob du glaubst, dass es Susi gut geht.“
„Was meinst du? Ich versteh das nicht, ich kann hier …“
Ella wusste, dass er die Nachricht gefunden hatte. Sie lehnte am Waschbecken, als er die Kabine verließ. Er kam auf sie zu und nahm sie in den Arm.
„Das bedeutet gar nichts.“
„Bring mich einfach hier weg. Lass uns irgendwo hinfahren, möglichst weit
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