Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
erwartete mich dort außer dem Versuch eines Mordanschlags auf meine Person, gefolgt von einer Geschichte, die mir zwangsläufig ein schlechtes Gewissen bereiten würde? Hätte die Vernunft über die Neugier gesiegt, hätte ich mich nie wieder nach oben begeben.
Das Zimmer meines Bruders war kahl und leer, genauso wie er es verlassen hatte, das Bett und die Kommode standen bereit, »für den Fall, dass ich mal eine Absteige brauche«. Auch in meinem Arbeitszimmer versteckte sich keine Lady mit einer Ukulele. Die sonst im Zimmer verstreuten Pläne lagen ordentlich gestapelt auf dem Zeichentisch an der Wand. Aus Gewohnheit weckte ich den Computer aus seinem Schlaf, die Fanfare erklang, und blaues Licht erfüllte die Umgebung meines Schreibtischs. Die Hardware tuckerte, und die Software wirbelte, bis schließlich alle Datei- und Programm-Icons den Bildschirm füllten. Ich öffnete den E-Mail-Browser und war verblüfft, dass der Speicher voll war. Unmöglich, dachte ich, aber Tausende ungelesener Nachrichten verstopften den Posteingang. Ich sah nach, ob Sita kürzlich geschrieben hatte, aber ihre Adresse fehlte in der Liste. Ich werde Wochen brauchen, diese Mails in die Ordner Junk , gelöscht und gelesen zu schieben. Die Daten der jüngsten Nachrichten sind zudem falsch, als wären sie aus der Zukunft gesendet; allein der Gedanke daran, all dies zu sichten, bereitet mir Kopfschmerzen.
Unter dem Schreibtisch lauerte im Dunkeln das Gewirr aus Steckern und Kabeln. Im Wäscheschrank hielten Handtücher und Laken die Ordnung. Die letzte Möglichkeit war der Dachboden, doch die Tür war verschlossen, als ich ihn verlassen hatte. Sie war völlig verschwunden, wenn sie überhaupt je existiert hatte. Eine leise, gedehnte Jazzmelodie schlüpfte unter der Badezimmertür hervor, und über dieser Hintergrundmusik rollte und stampfte Geplauder, jemand erzählte einen Witz, und die anderen lachten, der Lärm von Menschen, die sich amüsierten. Ich hörte Eiswürfel in Gläsern klirren, als wäre eine Cocktailparty im Gange, eine Szene aus den späten Fünfzigern oder frühen Sechzigern, der alte Mann im Smoking oder im Dinnerjacket, die Frauen herausgeputzt mit leuchtend roten Lippen und mit aufgetürmten Haarsprayfrisuren. Allein schon der Gedanke an eine Party munterte mich auf, und ich strahlte bereits wie ein Honigkuchenpferd, als ich die Tür öffnete. Die Mündung eines Revolvers zielte genau auf mich. Es war die siebte Schwester, superelegant in einem messerscharfen kleinen Schwarzen, die mir die Waffe vors Gesicht hielt. Hinter der Pistole hatte sie ein teuflisches Grinsen aufgesetzt, und die Bande hinter ihr sah mich lächelnd an. »Komm schon rein«, sagte sie. »Du bist der Ehrengast.«
Kapitel vierzehn Die Frau, die mit der Knarre schoss
I ch fand sie seltsam verführerisch, die Frau mit dem Revolver, aber vielleicht lag das an dem messerscharfen kleinen Schwarzen. Sie fuchtelte mit dem Lauf vor mir herum, ich gehorchte ihrer Anweisung und quetschte mich ins Bad. Wir waren nun zehn – die sieben Frauen, der alte Mann, ich und der Junge. Junge, weil das Kind in der Zeit, in der ich weg war, wiederum einige Monate älter geworden zu sein schien. Sein Babyspeck war dahingeschmolzen, sein Gesicht hatte Konturen gewonnen, und wenn er lächelte, zeigte er eine geschlossene Reihe von winzigen scharfen Zähnen.
Während ich unten gesucht hatte, musste die Revolverheldin aus irgendeinem Versteck ins Bad geschlichen sein, und die anderen hatten sie aufgenommen und in ihre üblichen ausgelassenen Späße mit einbezogen. Sie zogen Grimassen voreinander und blinzelten mit ihrem dritten Auge. Veränderungen bei Frisuren und Kleidung – und natürlich die sich bewegenden Tattoos. Ein weiterer Bestandteil ihres Auftritts, oder vielleicht war das Ganze ein ausgeklügeltes Spiel. Wäre ich nicht in Gedanken mit den Revolverkugeln beschäftigt gewesen, hätte ich nachgefragt, welche Bedeutung hinter diesen kryptischen Symbolen steckte. Vielleicht bedeuteten sie gar nichts. Vielleicht ist manchmal eine sich windende Tattooschlange nur eine Schlange; eine Zigarre, Herr Doktor Freud, ist nur eine Zigarre; und eine Pistole ist nur eine Pistole. Jedenfalls lag die Macht in ihrer Hand.
Durch verschiedene Signale – eine gehobene Augenbraue, eine geschürzte Oberlippe, rasches Hin- und Hergucken zwischen mir und der Waffe – versuchte der alte Mann, mir zu versichern, er habe einen Plan, um die Todesschützin zu entwaffnen, aber ich hatte
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