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Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Donohue
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und die Brüder oben zogen ihre Pfeile. X’oots drehte sich wieder zurück in die Höhle, suchte im Dämmerlicht nach seiner Frau und den Kindern und wirbelte herum, als der erste Pfeil von seiner Schulter abprallte. Jetzt sirrte die Luft vor Pfeilen. Der Bär brüllte und taumelte; ein Dutzend Mal getroffen, kämpfte er sich hinaus ins Freie und rutschte kopfüber den Hang hinunter, bis er auf dem Rücken liegen blieb. Er hob den Kopf, aber er wusste, dass er sich nicht mehr bewegen konnte; dann lag er still da und hauchte sein Leben aus, während die Spitzen seines Fells im sanften Wind erbebten. Die Hunde tanzten um die Leiche herum, kläfften Triumph und jaulten gegen ihre Todesangst an. Einer der Brüder trat dem toten Tier unerschrocken in die Rippen, und als er sah, dass kein Geist mehr im Bären war, hob er das Kinn zum Himmel und begann zu singen.
    Als S’ee die menschliche Stimme hörte, holte sie ihre Kinder aus dem Versteck, bat sie, sich still zu verhalten, und sammelte die Pfeile auf, die ihr Ziel verfehlt hatten. Mit einer Schnur, die aus den Überresten ihrer Kleidung gedreht war, band sie dem Hund die Pfeile an die Flanken und schubste ihn zur Höhle hinaus. Als die Pfeile auf diese Weise zu den Brüdern zurückkehrten, hielten sie in ihrem Gesang inne, denn nun wussten sie, dass in der Höhle über ihnen sich noch etwas Menschliches verbarg. Sie fanden sie nackt und zusammengekauert mit zwei kleinen Kindern im dunkelsten Winkel der Höhle.
    »Frau, wie bist du hierhergekommen?«
    »Ich bin S’ee, erkennt ihr mich nicht? Und es war mein Mann, den ihr mit euren Pfeilen durchsiebt habt.« Sie schob die Männer beiseite und krabbelte auf allen vieren den Abhang hinunter, bis sie den staubigen, blutbefleckten, vom Geist verlassenen Bären umarmte. Insekten umschwärmten seine Wunden, krochen in sein Maul und in die leblosen Augen. Sie vergrub ihre Hände in seinem Fell, umfasste die starken Muskeln seines Arms und brach in Wehklagen über seinen Tod aus. Klein-Yeikoo.shk’ rannte herbei, wollte sie trösten, und als sie den Jungen sah, dachte S’ee an das Baby, das sie in der Höhle zurückgelassen hatte, und wusste plötzlich, was sie tun musste.
    »Geht zu meiner Mutter und bittet sie, dass sie mir und den beiden Kindern Kleider bringen lässt, und wir brauchen Mokassins für den Heimweg. Ihr müsst den Kopf und die Haut unversehrt lassen und sie gen Osten über vier Pfähle spannen, sodass X’oots jeden Tagesanbruch sehen und über seine Kinder wachen kann.«
    Die Brüder taten, wie sie es sie geheißen hatte, und die Hunde wimmerten untröstlich die Bärenhaut an, die sich über ihnen spannte, als wäre sie lebendig. Die Brüder nahmen das Fleisch, aßen es aber nicht, sondern errichteten einen Scheiterhaufen, kaum dass sie das Tal verlassen hatten, und verbrannten es auf einem Gipfel. Sechs Tage lang wachte S’ee über den Bären, der den Sonnenaufgang sah, und verfluchte ihn wegen seines Stolzes. Und als die Brüder nach einiger Zeit zurückkehrten, rannten die Kinder hungrig und schmutzig, weil sie sie vernachlässigt hatte, davon und versteckten sich vor ihnen. Der jüngste Bruder, dessen Pfeil X’oots’ Herz durchbohrt hatte, übergab S’ee die von der Mutter genähten Kleider und Mokassins, deren traditioneller Schnitt und Stil ihren Schmerz linderten. Da S’ee den Gedanken, ihren Mann zurückzulassen, nicht ertrug, bat sie ihren jüngsten Bruder, die Haut zusammenzurollen und auf dem Rücken nach Hause zu tragen. Sie zog sich an, kämmte mit den Fingern ihr Haar, fütterte die Kinder und verließ dann hinter ihren Brüdern das Tal der Bären.
    Geraune erreichte ihr Ohr, noch ehe die Familie ins Dorf gelangte. Diese Kinder seien keine Tlingits, sondern halbe Bären, und S’ee sei wegen ihrer langen Vertrautheit mit den Grizzlys im Regenwald auch beinahe einer geworden. Selbst ihre Mutter und Schwestern betrachteten sie mit Erstaunen und Misstrauen. S’ee hörte zufällig, wie der älteste Bruder zu Shax’saani sagte, ihre Schwester rieche wie ein alter Braunbär, ganz gleich, wie oft sie auch bade. Beim Potlach steckten die Stammesführer die Köpfe zusammen und wisperten sich etwas zu, als sie S’ees Kinder in ihrem rüden Spiel herumrollen und -purzeln sahen. Gerüchte fielen wie Regen: dass sie in ihrem Innern Wilde seien und als Erwachsene Amok laufen würden; dass ihre Zähne schärfer seien als die eines Marders; dass sie in glatt einer Minute ein Loch graben könnten, das

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