Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
tief genug sei, um sich darin zu verbergen; dass sie mit Vorliebe auf die Pfade kacken und ihr Kot voll unverdauter Beeren wie Juwelen glänze. Im Frühsommer ermahnten einige Mütter ihre Sprösslinge, sich von S’ees »Kindern« fernzuhalten. Diese Ablehnung verbreitete sich von Haus zu Haus, von Familie zu Familie, bis sie den ganzen Clan infiziert hatte.
»Es tut mir leid, Schwester«, sagte die eine, die schließlich D’is, den mondgesichtigen Jungen, geheiratet hatte, »aber dein Sohn und deine Tochter sind Wilde, sie verderben meine Kinder.«
Jene Kinder, die mit Yeikoo.shk’ spielten, ärgerten ihn oft damit, er gebe vor, ein Bär zu sein. Er war den Sommer über gewachsen und nun stark genug, unter die Haut seines Vaters zu kriechen und mit dieser Last einige Schritte zu gehen. Ältere Jungen, keine Kinder mehr, aber auch noch keine Männer, zwangen ihn, sich den Bären umzuhängen, sodass sie, im Gebüsch hockend, ihn mit stumpfen Pfeilen beschießen konnten. Die, welche auf das Fell prallten, fielen schadlos zu Boden, aber viele verfehlten ihr Ziel und trafen seine nackten Arme und Füße.
»Was ist dir zugestoßen?«, fragte S’ee ihren Sohn nach einem dieser Jagdspiele. Doch er weigerte sich zu antworten und weinte nicht, als sie ihm Balsam auf die Striemen und Schrammen rieb. Bockig schlief er allein in einer Ecke ihres Hauses, widersetzte sich dem Trost seiner Mutter und dem Flehen seiner Schwester; doch nach dieser Nacht spielte er nie mehr mit den Dorfjungen und lief oft davon, um den Tag auf einem Ast zu vertrödeln oder, wenn die Lachse wanderten, sich auf den Felsen und im Wasser herumzutreiben. Drei Jungen erspähten ihn dort hüfttief in den Stromschnellen, ein Lachs zappelte in seinem Maul. Sein Verhalten und sein rasches Wachstum blieben von den Erwachsenen nicht unbemerkt. Shax’saani trug ihrer Schwester den Tratsch zu. »Sie sagen, er sei langsam, dein Junge. Im Körper eines Mannes, aber mit dem Gemüt eines Kindes.«
Yaan.uwahàa, der Tochter, erging es nicht besser. Rasch überragte sie alle anderen Kinder des Clans, rannte schneller als alle kleinen Kinder und die anderen Mädchen, und am Ende des Som mers sah sie aus wie eine zehnjährige Version ihrer Mutter. Sie hatte einen scharfen Geruchssinn und war immer hungrig, und mehr als einmal mussten ihre Tanten sie mit dem Besen von ihrer Küchentür verjagen, wenn sie nach einem zweiten Frühstück Ausschau hielt. Auch wenn die Dorfmädchen nicht mit stumpfen Pfeilen auf sie schossen, ließen sie noch weniger Gnade walten als die Jungen. Gruppe für Gruppe ging ihr aus dem Weg. In den meisten Nächten rollte sie sich unter der Bärenhaut zusammen, vermisste ihren Vater und weinte sich in den Schlaf, während der Regen auf das Dach trommelte.
Im Frühherbst liefen die beiden Kinder davon und wurden eine Woche lang nicht gesehen. S’ees jüngster Bruder, der, dessen Pfeil X’oots als erster durchbohrte, folgte ihrer Spur bis zu einem Berg in der Nähe, wo sie eine frische Höhle gegraben hatten. Er fand sie schlafend, eng aneinandergeschmiegt, mit der Bärenhaut als Kissen. Er band ihre Hände an ein langes Seil und führte sie wie störrische Hunde zurück ins Dorf. Die Feuer des Stammesrats brannten bis tief in die Nacht, und am Morgen, noch ehe irgendein anderer aufgestanden war, huschte Shax’saani an S’ees Bett und rüttelte sie sanft wach. »Meine süße kleine Dolly«, sagte sie. »Komm, mach mit mir einen Spaziergang und lass uns die Sonne über den Bäumen aufgehen sehen.«
Sie schlenderten zur Meeresküste und beobachteten eine Herde Orcas, die vorbeischwammen und gemächlich ihr Frühstück jagten. »Als du mit dem Mann fortgegangen bist, habe ich um dein Leben gefürchtet, und als du an jenem Tag und am nächsten und viele Monate lang nicht zurückgekehrt bist, war ich todunglücklich. Ich hatte niemanden mehr, mit dem ich reden konnte, und nachdem dann auch noch D’is …«
»Der Mann im Mond«, gluckste S’ee.
»Nachdem er eine andere geheiratet hatte, hatte ich niemanden mehr auf der Welt. Ich sehnte mich noch immer nach dir, und es verging kein Tag, an dem ich nicht an dich gedacht habe.«
»Auch du hast mir gefehlt, Schwester.«
»Als die Brüder mit der Nachricht, sie hätten dich gefunden, zurückkehrten und dann unsere Mutter holten, damit sie dir Kleider schicke, war meine Qual zu Ende, und als du dann durch die Tür kamst – nachdem der von dir ausgehende Geruch sich aus meinen Kopf
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