Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)
verflüchtigt hatte –, ja, da hüpfte mein Herz wie ein Baby im Mutterleib.«
Die letzten Wale zogen vorbei. Hinter ihnen strahlte die Sonne die Tannen an der fernen Küste an, und nun funkelte Licht auf dem Meer. Shax’saani nahm S’ees Hand in ihre. »Aber du hast die beiden Wilden in unsere Familie gebracht, und die Männer haben Medizin angerührt, um zu entscheiden, was getan werden muss. Sie sagen, das Essen von Braunbärenfleisch sei nun tabu. Nur Schwarzbär darf als Nahrung dienen. Du darfst bei uns bleiben, Dolly, aber deine Kinder müssen in den Regenwald verbannt werden, zu unserer eigenen Sicherheit. Sie werden eines Tages zu Grizzlys und werden bestimmt einen Tlingit töten, vielleicht deinen Bruder, vielleicht deine Schwester.«
S’ee dachte über die Worte ihrer Schwester nach, hob Steine vom Kiesstrand auf und hielt sie eine Weile in der Hand, während sie überlegte. »Ich bin froh, dass von heute an kein Tlingit mehr Braunbären isst, auch X’oots wäre glücklich darüber. Aber es sind mein Sohn und meine Tochter, Shax’saani. Wenn du sie verbannst, verbannst du mich. Für immer.«
»Nicht ich bin es, kleine Schwester, sondern die Weisheit des Dorfes.«
S’ee nahm die Hand ihrer Schwester, bog ihre Finger auf und legte ihr die Kieselsteine hinein. Die Sonne schien nun voll auf die Bucht. Am westlichen Horizont bildete sich vom Meer kommend ein schmales Wolkenband. Sie ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen, ging weiter durch das Dorf voll quirligem Leben, die Pfade entlang, wo es in den Monaten vor ihrer Geburt Lachse geregnet hatte. Sie ging am Haus ihrer Mutter vorbei, ohne an ihrer Tür stehen zu bleiben, vorbei an den Häusern ihrer Schwestern, vorbei an den Häusern ihrer Brüder, wo auf Ständer neben Ständer Heringe in der Sonne trockneten. Ihre Kinder rührten sich, als sie ihr Haus betrat, und sie sang, als das Frühstück auf dem Feuer kochte, und als sie ihr Mahl beendet hatten, sagte S’ee ihnen, sie müssten gehen.
Da die schwere Haut sich in der Sonne aufheizte, wechselten sie sich ab mit der Last und trugen sie auf der Schattenseite der Pfade, wo die Flechten die Bäume wie grüne Geister aussehen ließen. Die Reise dauerte viel länger, als S’ee gedacht hatte. Während sie mit ihren Kindern denselben Weg nahm, den sie Jahre zuvor mit ihrem jungen Mann gegangen war, fühlte sie, dass der Kreis sich schloss. Sein Geist schwebte über ihnen, er sank mit dem Regen nieder und erhob sich mit dem Nebel. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie behutsam er die Babys in seinen Armen gewiegt und wie er gegrinst hatte, wenn er Leckereien wie Moltebeeren oder eine warme Elchkeule zur Höhle brachte. Wie wild sein Blick gewesen war und wie sehr es sie befreit hatte, wild zu sein. Die Art, wie er mit dem Kopf voran in einen Fluss gesprungen und glänzend wieder aufgetaucht war, wie das Wasser von seiner Haut rieselte und an seinen Haarspitzen glitzerte … Wie fett er im Dezember gewesen war und wie dürr, wenn es April wurde. Wie er vor Freude gebrüllt hatte, wenn sie ihre Hüften unter ihm bog. Wie er sich entschieden hatte, für sie ein Mensch zu sein.
Im Tal der Braunbären fand sie niemanden, der gewillt war, mit ihr Lingit zu sprechen, und jedes Wort musste durch die Ohren und Münder ihrer Kinder gefiltert werden. Nach diesem übersetzten Gespräch ahnte sie, dass die Bären ihr vorwarfen, an X’oots’ Tod schuld zu sein und Menschen in den Regenwald gebracht zu haben, und dass sie, während ihre Kinder willkommen waren, nicht bei ihnen bleiben durfte.
»Ich erinnere mich«, sagte Klein-Yeikoo.shk’ und führte sie zu der Höhle, wo es geschehen war. S’ee konnte es kaum ertragen, auf dem Berg zu stehen, wo ihr Mann gelegen hatte, aber sie hatten keine Wahl, sie mussten in ihrem alten Zuhause überwintern. Ihr Sohn war der Erste, der fortging, eines Nachts stahl er sich mitten in einem Schneesturm, vom Hunger und der Enge fast irre, davon. Später wurde ihr zugetragen, er sei weiter nach Norden ins Landesinnere gewandert, um weit fort von den Menschen zu sein, und manche sagten, Yeikoo.shk’, der Grizzly, terrorisiere den Yukon, stolz und klug wie alle Tlingits habe er viele Junge mit vielen Bärinnen, und seine Spur sei nicht auszumachen. Ihre Tochter Yaan.-uwaháa blieb diesen ersten Winter und bis ins Frühjahr hinein bei ihr, bis die in diesem Februar geborenen Jungen mit ihren Müttern auftauchten; und der mütterliche Sog zwang sie zur zögerlichen Loslösung
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