Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition)

Titel: Sommernachtsfrauen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Donohue
Vom Netzwerk:
von ihrer eigenen Mutter. Gut drei Jahre später war sie tot, sie wurde das Opfer einer anderen Jagdgesellschaft, die sie für einen richtigen Bären hielt und im Quellgebiet des Flusses erschoss. Eines ihrer beiden zu Waisen gewordenen Jungen überlebte, und als er drei Jahre später einen der Jäger schlafend in einem Wäldchen fand, beförderte er ihn mit einem Hieb in den Nacken in die nächste Welt.
    S’ee lebte lange Zeit oberhalb des Braunbärentals. In den warmen Monaten bewegte sie sich unter ihnen in einer angespannten Waffenruhe und brachte sich selbst ihre Lebensart bei, doch sie hielten großen Abstand zu ihr. Keine gemeinsamen Gepflogenheiten, kein gemeinsamer Handel. Nur aus der Ferne konnte sie ihre neuen Familien betrachten. Jedes Jahr im Juni erinnerte sie der Duft von Schaumblüte und Korallenwurz an den Mann, den sie geliebt und verloren hatte. Und in den langen kalten Wintermonaten, wenn sie an seine Haut geschmiegt angestrengt nach seinem schwindenden Duft in dem abgeschabten Fell suchte, träumte sie von ihm. Mit den Jahren meinte sie, sie selbst würde zum Bären. Im Alter von fünfundzwanzig konnte sie den Anblick ihres Spiegelbilds im Wasser nicht mehr ertragen. Und mit dreißig, aller Sprache beraubt, die sie einst kannte, fühlte sie sich, als hätte sie schon immer in der reinsten Stille gelebt. Als der Geist über sie kam, damit sie ihren Kummer heraussinge, ängstigte sie der Klang ihrer Stimme. In kalten klaren Nächten zog sie die Decke um die Schultern und über den Kopf und kauerte sich auf die Felsen, um die Sterne zu zählen, die in Sternbildern, aufgereiht wie ein Rudel Rehe, am nördlichen Himmel standen. Obwohl sie ihre Namen schon lang vergessen hatte, betete sie, ihr Licht möge verlöschen, und wartete auf das Ende der Welt.

Kapitel drei
Fahrradmädchen
    I ch wendete, in ihre Geschichte versunken und mit dem seltsamen Gefühl, für ihr Ende verantwortlich zu sein, den Blick von ihrem strahlenden Gesicht ab und betrachtete ihre Zehen, die ich bisher nicht gebührend beachtet hatte. Ihre Füße waren weich und schön, wie eben erst modelliert. Ich studierte die anmutigen Umrisse mit andächtiger Aufmerksamkeit und malte mir allerlei Wollüstiges aus.
    »Bapp-bapp-bapp-bapp!« Ein Warnruf des alten Mannes, und als ich aufblickte, sah ich die Kriegskeule, die Dolly mit beiden Händen über dem Kopf hielt, und auch die verrückte Freude in ihren Augen, mit der sie sich anschickte, mir den Schädel einzuschlagen. Verblüffend behände sprang der Alte auf sie zu, wie ein Kolben schoss sein rechter Arm hervor, und seine Finger umklammerten ihr Handgelenk. Trotz seiner scheinbaren Gebrechlichkeit war der Griff des alten Kerls so eisern, dass sich die Keule nicht einen Zentimeter bewegte.
    »Die Rache ist mein«, zischte sie zwischen den Zähnen hindurch.
    »Spricht der Herr«, ergänzte er. Ihre Nasen berührten sich fast. »Du unterschlägst die Hälfte des Zitats, was den Sinn entscheidend verfälscht. Teilzitate sind die Geißel jeder Debatte, unvollständiges Zitieren ist der Trick von Manipulatoren und Scharlatanen. ›Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.‹ Levitikus, glaube ich. Es steht dir nicht zu, Rache zu üben. Ich bitte dich, diesen Knüttel niederzulegen, bevor er noch versehentlich Unheil anrichtet. Wirklich, Dolly.«
    Verkeilt im Kampf aus uralten Zeiten, bebten die beiden Gestalten voll aufgestauter Energie wie zwei Lokomotiven, die einander auf demselben Gleis rammen. Dampf zischte aus den Winkeln ihrer zusammengepressten Lippen und den Windungen ihrer Ohren. Hätte ich nur über die geringsten Reflexe verfügt, hätte ich ihm in diesem Gefecht beigestanden, doch Mangel an Mut oder Instinkt ließ mich als stoischer Zeuge meiner Bedrohung als auch meiner Rettung tatenlos zusehen. Sie keuchte und grinste ihn höhnisch an, Zorn pulsierte in ihren Schläfen. Seine fünf Finger erhöhten den Druck, woraufhin ein leises, aber deutlich metallisches Quietschen einsetzte. Sie schrie auf und ließ die Keule los, die mit einem dumpfen Schlag im Waschbecken landete. Dolly fiel, ihr Handgelenk umklammernd, gegen den Waschtisch. Da sie mich nicht anschauen wollte, drehte sie den Kopf weg, doch im Spiegel des Medizinschranks sah ich die Verbitterung in ihren Augen.
    Mein Kopf tat wieder weh, entweder wegen meiner ehemaligen Wunde oder wegen der vielschichtigen Verwicklungen ihrer Geschichte. Ich spürte aber nicht nur Schmerzen im Kopf, sondern auch an

Weitere Kostenlose Bücher